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Preußische Allgemeine Zeitung / 19. Juni 2004
Die Bereitschaft, sich "couragiert" einem großen Strom des Konsenses entgegenzu- werfen, hängt allerdings auch davon ab, wie die demokratische Gesellschaft auf Widerspruch reagiert. Tut sie es mit Ausgrenzung, zum Beispiel durch die Medien, oder droht die Gesellschaft gar Nonkonformisten existenziell zu vernichten, dann wird die "Zivilcourage" in der Gesellschaft erlahmen, und der freie Dialog wird verstummen. Denn Toleranz ist die Zwillingsschwester der Zivilcourage. Wo auf abweichende Meinungen oder abweichendes Verhalten mit extremer Intoleranz, mit Ausgrenzung oder gar mit Gewalt geantwortet wird, dort wird auf die Dauer die Freiheit versiegen. Ich kenne kein Land mit hervorstechender Zivilcourage, das nicht auch ein Land hervorstechender Toleranz wäre. Und Deutschlands Armut an Zivilcourage - die schon Bismarck so hart kritisierte - entsprach deswegen leider immer auch ein Mangel an Toleranz für existenziell abweichende Meinungen. Toleranz zu erlernen war folglich eine der wichtigsten Aufgaben der deutschen Gesellschaft nach 1945. Hier aber haben wir aus meiner Sicht leider wenig erreicht. Unsere Republik schützt natürlich die Meinungsfreiheit; man kann sagen, was man will, ohne rechtliche Strafe fürchten zu müssen. Dennoch leidet die Republik aus dem Blickwinkel vieler Bürger unter einem intoleranten Klima von Political Correctness. Das führt zu vorsichtiger Anpassung und Gedankenfeigheit. Ist diese heutige Situation vielleicht am Ende auch ein Ergebnis der "Vergangenheitspolitik"? Haben Erinnerung" und "Vergangenheitsbewältigung" den offenen, streitigen Dialog so eingeengt, daß am Ende die Entwicklung von Zivilcourage in unserem Land eher behindert wurde ? Erstickt die Art und Weise, wie wir in Deutschland oft unsere Nazivergangenheit bemühen, eventuell die freimütige politische Diskussion zu- gunsten lautstarker Konformität? Lassen wir uns in Deutschland, anstatt gerade wegen unserer Geschichte der Meinungsfreiheit auch in diesen so zentralen politischen Fragen eine Gasse zu bahnen, nicht allzuoft auf einen engen Pfad der Political Correctness abdrängen? Nehmen wir als Beispiel die Walser-Bubis-Debatte. Da standen in der Paulskirche die Zuhörer fast geschlossen zum Applaus für Walser auf; Ignatz Bubis blieb mit seiner Frau sitzen. Ich konnte das nachvollziehen. Aber als dann, wenige Stunden später, der Bannstrahl des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Walser traf - "geistiger Brandstifter" -, war fast niemand mehr zu sehen. Walsers angeblicher Versuch, einen Schlußstrich unter die Nazivergangenheit zu ziehen und dem Vergessen das Wort zu reden, wurde öffentlich gebrandmarkt. Ich selbst konnte und kann solche Tendenzen bei Walser nicht erkennen; Bundespräsident Herzog hat in seiner Rede zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz im Deutschen Bundestag ein Jahr später klar dargestellt, daß diese Beschuldigung von Walser ohne jeden Grund ist. Doch noch immer wird Walser von intoleranten, kreischenden Gruppen - und auch von Studenten an Universitäten! - gehindert zu sprechen; ein beschämender, in England oder Amerika undenkbarer Zustand. Allerdings gibt es dort auch eine andere Tradition von Meinungsfreiheit, Zivilcourage und Toleranz. Ein anderes Beispiel: Bundestagspräsident Jenninger wurde wegen der mißverständlichen Intonierung einer sonst inhaltlich akzeptablen Rede ehrabschneidend in die Wüste geschickt. Ignatz Bubis hat aber später bestätigt, daß er selbst diese Rede ohne Widerspruch nachgesprochen habe. Als ich dann das Präsidium des Deutschen Bundestages bat, Jenninger zu rehabilitieren, wurde das abgelehnt. Kein Zeichen von Zivilcourage! Haben wir also als Demokraten das Wichtigste gelernt? Die Verbrechen zu wissen reicht nicht aus. Allen Dulles hatte richtig beobachtet: die mutige Verteidigung der Demokratie in demokratischen Zeiten ist das Fundament jeder Demokratie. Erinnerungen an die alltägliche Zivilcourage von Menschen im Widerstand gegen die Nazis könnten uns helfen, alltägliche Demokratie besser zu lernen. Aus der Zivilcourage des Widerstandes könnten die Deutschen heute mehr lernen als aus der ständigen Wiederholung der Verbrechen! Deutsche Vorbilder wären notwendig, und hier gäbe es die Vorbilder, die wir dringend brauchen: Vorbilder nämlich für den alltäglichen Mut, von dem eine Demokratie lebt. Mit Blick auf die deutsche Katastrophe, auf die Verbrechen und auf die Feigheit in den Nazijahren sollte sich also heute unsere Aufmerksamkeit sehr viel mehr auf diejenigen richten, die damals versuchten, durch ihre Stimme und ihre Unabhängigkeit im Denken die Demokratie zu bewahren. Und von ihnen gab es viele, auch viele Unbekannte. Das zu wissen und sich daran zu messen ist viel wichtiger als jede Wehrmachtsausstellung. Denn auch heute brauchen wir Menschen, die in Parteien und Gewerkschaften, in Parlamenten und Verbänden die notwendigen Entscheidungen früh erkennen und mutig benennen, was zu tun sei, auch wenn dies im Augenblick unbequem oder gar nachteilig ist. Durch solche Zivilcourage - mehr als durch jede Lichterkette - würde die Demokratie gestärkt, bevor etwa ihre "vitalen Linien" durchbrochen werden könnten. Denn wir dürfen uns nicht auf einen "Widerstand" im üblichen Wortgebrauch verlassen; ein Widerstand nämlich, der nötig würde, wenn die Verfassung vom Staat schon gewaltsam gebrochen sein würde. Wir müssen die alltägliche "Zivilcourage" klar vom "Widerstand" unterscheiden. Ich zweifle daran, ob heute unter den vielen politisch korrekten Zeitgenossen in diesem Sinne mehr zum "Widerstand" in der Gefahr bereit wären, als damals. Ich bezweifle auch, ob in ir-gendeinem anderen Lande die Zahl der Aufrechten und Couragierten größer gewesen wäre als damals in Deutschland, nachdem 1933 einmal die "vitalen Linien" durchbrochen waren, das Parlament in einem Akt der Gewalt entmachtet und die Gewalt von Polizei und Gerichten in die Hände eines parteipolitischen Mobs auf der Straße geraten war. Jedenfalls gibt mir die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts lange von keinem weißen "Widerstand" gebrochene, rechtlose weiße Herrschaft in den Südstaaten der USA dafür wenig Anhaltspunkte. Und auch die lange Toleranz der britischen Gesellschaft für Sklavenhandel und der Sklaverei in den Südstaaten der USA, wiederum trotz einer jahrhundertealten Bill of Rights, schafft wenig Vertrauen in bessere Menschen anderer Gesellschaften. Auch die nahezu widerstandslose Haltung der Menschen in der Sowjetunion gegenüber stalinistischem Terror und Verbrechen ist da wenig ermutigend. Ich komme zum Schluß. Es wird Zeit, so scheint mir, daß wir uns erneut ehrlicher und offener Rechenschaft ablegen über die "deutschen" Lehren aus der Nazizeit, über die Ursprünge der Nazibewegung, ihre innenpolitischen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Bedingungen. Es ist verständlich und richtig, daß wir Deutsche auch heute noch schwer an unserer historischen Verantwortung tragen, trotz erfolgreicher demokratischer Entwicklungen. Uns umgeben die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und der Holocaust unverändert. Aber Deutschland hat diese Vergangenheit nun fest in seinem Gedächtnis; wir haben die Fakten der Verbrechen gelernt. Für dieses Wissen waren umfassende historische Studien wertvoll und unersetzlich. Doch eine offenere, auch wahrheitsgemäßere Debatte über die deutsche Geschichte, freimütig geführt von deutscher Seite, steht aus. Man muß nur an den Universitäten und Schulen mit den jungen Menschen reden, um zu spüren, wie diese mit dem Gefühl leben, manches, was ihnen auf dem Herzen liegt, nicht offen ansprechen zu sollen. Lösen wir uns von den Einseitigkeiten und erlösen wir die Deutschen von dem Gefühl, ihre Sicht und Einsichten nicht wirklich frei sagen zu können. Wir müssen auch begreifen, Juden und Nicht-Juden gleichermaßen, daß gerade wegen unserer Geschichte der Vorwurf des Antisemitismus im politischen oder intellektuellen Streit in Deutschland heute ein unvergleichlich größeres Gewicht haben muß als in anderen Ländern. "Antisemitismus" grenzt nicht nur aus - der Vorwurf verbannt. Wir müssen deswegen umsichtig und nur gut begründet mit diesem Wort umgehen. Der voreilige Vorwurf von Antisemitismus erschreckt, läßt verstummen und stärkt nicht das demokratische Selbstbewußtsein der Deutschen, sondern schwächt die demokratische Substanz. Wenn die britische Zeitschrift "economist" uns Deutsche kürzlich bildlich karikierte, ängstlich in eine Ecke geduckt, in die uns ein starker Arm mit dem Davidstern weist, dann ist das ein erschreckender Eindruck von draußen, der von vielen Deutschen aber auch so empfunden wird. "Angst", ein Fremdwort übrigens aus dem Deutschen in der englischen Sprache, wird uns dort vom "economist" attestiert, und Hysterie. Wir sollten solche Eindrücke anderer nicht einfach von der Hand weisen. Die meisten Deutschen wissen heute mehr über die zwölf kurzen Jahre des Nationalsozialismus als über Jahrhunderte deutscher Geschichte davor. Kein anderes Volk befaßt sich mit den Schattenseiten seiner Geschichte so intensiv wie wir. Gewiß, angesichts des deutschen Holocaust hatte auch kein anderes Volk so viel Grund zur Selbsterforschung wie die Deutschen. Doch wir scheinen fast nur noch zurückzublicken. Aus Vergangenheit aber wird keine Zukunft. Ein Volk, das immer nur seine negative Vergangenheit, nicht aber seine Zukunft, seine Rolle und seine Bedeutung, seine nationalen Interessen und seine internationalen Aufgaben diskutiert, hat auch keine Zukunft. Europa aber braucht ein Deutschland, das auch an seine Zukunft glaubt. Für Deutschlands Zukunft, für unsere Demokratie und Kultur ist heute nichts wichtiger als ein Klima offe-ner und breiter Meinungsfreiheit. Sie ist das Fundament der Demokratie. Wir müssen uns vor einer Bedrückung durch allzu mächtige Political Correctness schützen. Gerade wegen unserer Geschichte gilt dies für uns Deutsche in besonderem Maße. Nur in offener Meinungsfreiheit, die auch extreme Abweichungen toleriert und dann im politischen Streit austrägt, erwachsen Mut und Kreativität. Denn Zivilcourage wächst und zählt nur in der Praxis. Meinungsfreiheit lehrt demokratische Selbstbehauptung, und toleranter Streit ist das Fundament der demokratischen Gesellschaft. Das zu erinnern schulden wir auch den Frauen und Männern des deutschen Widerstands. Einen tiefen, inneren Sinn für Freiheit zu entwickeln ist für uns heute die wichtigste Lehre aus der deutschen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Wir haben sie noch nicht beherzigt.
Dr. Klaus von Dohnanyi, geb. 1928 in Hamburg, ist seit 1957 Mitglied der SPD. Von 1969 bis 1981 gehörte er dem Deutschen Bundestag an. Von 1972 bis 1974 war er Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, von 1976 bis 1979 Staatsminister im Auswärtigen Amt, von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg. Der in dieser Serie dokumentierte Text basiert auf einem Vortrag der Akademie für Politische Bildung Tutzing in der vom Bayerischen Landtag veröffentlichten Fassung. |