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17.07.04 / Aldi, die Milch und der Bauernkrieg / Siegmar Faust berichtet

© Preußische Allgemeine Zeitung / 17. Juli 2004


Aldi, die Milch und der Bauernkrieg
Siegmar Faust berichtet von einer kaum wahrgenommenen Demonstration von Landwirten vor einem Discounter

Etwa 200 Bäuerinnen und Bauern rotteten sich in aller Herrgottsfrühe gegen vier Uhr morgens vor einem Aldi-Zentralauslieferungslager in Helmstadt zusammen. Mit Dreschflegeln, Morgensternen und Äxten? Mitnichten! Ein einziger Traktor mit einem Transparent stand gewissermaßen drohend an der Straßeneinbiegung. Es war stockdunkel, zudem wehte ein naßkalter Wind. Fackeln wurden verteilt. Gegenüber auf dem Felde brannte bald ein Strohballen lichterloh. Sollte es ein heißer Morgen werden?

Etwa ein Dutzend uniformierte Freunde und Helfer waren neben nicht erkennbaren Polizisten zur Beruhigung anwesend. Dann, man glaubt es kaum, ließen sich sogar zwei oder drei Spätaufsteher, also Journalisten, sehen, so daß nun öfters Blitzlichter die gespenstische Szene erhellten. Ein etwa sechsjähriger Knirps mit einem Transparent in der Hand wurde plötzlich zum Medienstar. Er fragte auf seinem Plakat: "Was soll aus mir werden?" Die Frauen hatten alle das standardisierte Schild über ihren selbstbewußten Busen hängen: "Ich will Bäuerin bleiben!" Man ging umher, begrüßte sich, fragte, wo dieser Ortsobmann oder jene Ortsbäuerin sei, man bedauerte wegen der bissigen Kälte den einen oder anderen, der keine Mütze auf dem Kopf hatte. Es wurde gescherzt und gelacht, vier Blechbläser spielten ein paar Weisen, die sie ansonsten auf den Dorffesten zum Besten gaben, doch bald brachte eine geübte Rednerstimme hinter einem Megaphon wieder den Ernst der Sache in Erinnerung.

An diesem Morgen wurde gegen die Preispolitik der Lebensmitteldiscounter protestiert, weil sie den Liter Milch im Tetra-Pak für 44 Cent verkaufen. Zwei Bauern hatten Milchkannen mitgebracht. Als sie dann in den Strahl eines Scheinwerfers gerieten, der einer Kamera den Raum ausleuchtete, wurden still und gelassen die beiden Kannen ausgegossen; die weiße Milch der Frühe erleuchtete den schwarzen Asphalt. Der Bayerische Bauernverband hatte in den Schreiben an die Bauern befohlen: "Mitzubringen sind Pfeifen, Trommeln und andere Lärminstrumente." Das war fettgedruckt und zudem noch unterstrichen, sollte also äußerst ernst genommen werden. So bimmelten nun Kuhglocken, es rasselten Holzinstrumente, es wurde gepfiffen, auf die Pauke gehauen und gejohlt, als ein Aldi-Lastwagen mit Anhänger ins Gelände einbiegen wollte. Nun, der Fahrer nahm es gelassen, schaltete seinen Motor ab und unterhielt sich locker mit den Demonstranten.

"Milch aus Bayern - wie lange noch?" oder "Bei diesen Preisen versauern die Milchbauern!" oder "Rabatt-Rausch - Aus für den Milchbauern!" stand auf einigen der vielen Transparente, die hochgehalten wurden. Doch vor wem? Zuschauer waren keine da, und die Auslieferfahrzeuge hatten schon, da sie von dieser Aktion aus der Zeitung wußten, das Gelände eine Stunde früher als üblich verlassen.

Als ich 1976 als politischer Gefangener des Honecker-Regimes über den innerdeutschen Menschenhandel in den Westen geriet und vorerst im freien Teil Berlins lebte, wurde ich bald ein begeisterter Aldi-"Fan", obwohl ich die meisten neudeutschen Denglisch-Worte noch gar nicht beherrschte. Neuen Bekannten, die über meine Aldi-Vorliebe die Nase rümpften, erklärte ich beharrlich, daß man in der "DDR" von Eisenach bis Wismar Schlange stehen würde, gäbe es dort nur eine einzige Aldi-Filiale mit "Westsachen" zu diesen Preisen. Ich vergaß nicht allzu schnell, woher ich kam, und wollte es auch nicht vergessen. Als dann endlich der Eiserne Vorhang gefallen war, konnte ich tatsächlich eine zeitlang nicht mehr bei Aldi einkaufen, denn nicht einmal die Ostberliner, sondern vor allem die Polen legten alle Billig-Discounter erst einmal mit ihren Masseneinkäufen lahm. Ich gönnte Aldi die Umsätze; doch vor allem verstand ich den Nachholbedarf unserer Brüder und Schwestern aus dem Osten, die mit ihrer "Solidarnosc" und ihrem Papst viel zum Untergang des sozialistischen Systems beigetragen haben. Den linken Diskurs-Terroristen verschlug es die Sprache, leider nur einen viel zu kurzen Moment. Als mir vorgehalten wurde, wie reich die Brüder Albrecht mit ihrer Ladenkette Aldi geworden seien, fragte ich zurück, ob sie ihren Reichtum etwa durch Betrug oder mit Gewalt erworben hätten? Nicht direkt, wurde mir beschieden, sondern durch "Abzocke" der Armen, "strukturelle Gewalt" nenne man das, was typisch sei für die verschleierte Ausbeutung in diesem modernen kapitalistischen Betrugssystem. Ich fragte zurück: Wo funktioniert es, bitte schön, besser auf dieser Erde? Doch dem marxistischen Kauderwelsch von der klassenlosen Gesellschaft als Alternative zu dem hier Vorhandenen konnte ich nicht mehr geduldig zuhören, das hatte ich schon zu lange im SED-Staat gemußt, und schon dort konnte ich meinen Mund nicht mehr halten.

Auch heute noch kaufe ich überwiegend bei Aldi ein, nicht unbedingt aus ästhetischen, sondern aus notwendigen Gründen. Was wären denn Sozialhilfeempfänger, Langzeitarbeitslose oder deutsche Dichter und andere Hungerleider ohne Aldi? Tot wären sie. Schon immer wollte ich auf die Brüder Albrecht einmal eine Hymne schreiben. Entwürfe gibt es schon einige im Kopf, aber dann dachte ich leider an die Vermarktung und fragte ernüchtert: Wer würde das denn drucken in dieser Republik? Zensur im Kopf - ein Relikt aus meiner "DDR"-Zeit oder neues Symptom dieser Gesellschaft? Schnell wurde ich durch meine neuen Erfahrungen und Einsichten ein begeisterter Anhänger der sozialen Marktwirtschaft, auch wenn ich bald durchschaute, daß dieser Begriff dem runden Quadrat glich. Nein, die meisten der im Westen sozialisierten Künstler beteten sozialistische Utopien an, andere dienten sich sogar wie Bernt Engelmann, Günther Wallraff und leider noch viele andere der Stasi an, um dem real existierenden Sozialismus nebenan, in dem sie selber jedoch nicht leben wollten, nützlich sein zu können. Freilich, es hat ihnen kaum geschadet, im Gegenteil, sie sind reich belohnt worden mit honorigen Honoraren und hohen Auflagen ihrer Schundbücher.

Bietet Aldi etwa Plunder oder Ramsch an? Nicht einmal die Bauern sind gegen Aldi voreingenommen, denn die meisten Bäuerinnen, die ich sprach, sagten, daß sie selber gern bei Aldi einkaufen, es wäre ja gute Qualität, die verkauft würde. Nur die Dumpingpreise bei Milch, das ruiniert uns ja, sagten sie. Damit würde Druck auf die Molkereien ausgeübt, und die geben den Druck natürlich nach unten weiter. Und wer sich gedrückt oder unterdrückt fühlt, darf wenigstens aufschreien, darf sich (noch) mit demokratischen Mitteln zur Wehr setzen, darf die Öffentlichkeit informieren mit solchen Happenings oder durch einfache Flugblätter, von denen ich eins in den Händen halte: "Wir fordern Verhandlungen!" Sie fordern über ihren Bauernverband Aldi und Lidl auf: "Seien Sie endlich ein fairer Partner der Milch- und Ernährungswirtschaft!" Oder: "Beenden Sie Ihre wertevernichtende Preisdruckpolitik!" Seit 2001 sollen die Milchpreise in Bayern um 16 Prozent gesunken sein.

Ja, ich als kleiner freiberuflicher Autor, soll heißen Selbstausbeuter, kann selber ein Lied davon singen, und ich vermute fast, daß meine Verdienstmöglichkeiten mindestens um das Doppelte gesunken sind. Dank dieser grünen Sozis und sozialistischen Grünen, die mich heute regieren? Oder dank meiner eigenen Unfähigkeit? Alles hat ja zwei Seiten, die man wenigstens immer mit in Betracht ziehen sollte. Ich muß wieder an die verblichene "DDR" denken. Wer dort Flugblätter verteilte, kam auf jeden Fall in den Knast, egal, ob der Text harmlos war und lediglich Karl-Marx-Zitate enthielt. Im Osten Berlins wurde sogar ein Mann festgenommen, der ausschließlich leere Blätter verteilte. Die Polizisten, die ihn festnahmen, fanden die Sache selber nicht beweiskräftig genug und wollten ihn schon wieder laufenlassen. Als er jedoch auf die Frage, warum er denn leere Blätter öffentlich verteile, antwortete, daß die Leute doch selber wüßten, was darauf stünde, empfanden sie das als staatsfeindliche Provokation und überließen ihn den Stasi-Verhören. Oder erinnern wir uns des "Weißen Kreises" in Jena. Einige Ausreiseantragsteller, die international verbürgtes Recht beanspruchten und von den Behörden massiven Repressalien ausgesetzt und ruiniert worden waren, trafen sich kurze Zeit lang jeden Sonntagvormittag schweigend auf einem Platz. Auffällig war nur, daß sie weiße Hemden oder Pullover trugen. Keine Parolen, kleine Flugblätter, nichts. Gab es jemals schon eine sanftere Demonstration? Von staatsfeindlicher Zusammenrottung war plötzlich die Rede. Brutal wurden sie schließlich auf Lastwagen geworfen und den Stasi-Gefängnissen zugeführt, wo einige brutal mißhandelt wurden. Die SED-Justiz-Maschine verurteilte sie obendrein zu Freiheitsstrafen zwischen 18 und 42 Monaten.

Ich friere. Der befreundete Bauer, mit dem ich hier bin und sozusagen unser Dorf vertrete, meinte gegen 5.30 Uhr, daß es jetzt reiche. Wir verlassen die Demo und fahren im Auto zurück, die Heizung auf volle Pulle gedreht. Er muß in den Kuhstall, ich nutze mein kleines Privileg und lege mich noch einmal aufs Ohr.

Existenzbedrohend: Im Juni zahlten die deutschen Molkereien im Durchschnitt 26 Cent pro Kilo Milch. Dies bedeutet aber auf kurz oder lang den Ruin vieler Milchviehhalter. Tierfutter, Tierarztkosten, Tierschutz, hohe gesetzliche Auflagen im Bereich Hygiene und Lebensmittelqualität sorgen für hohe Produktionskosten. Zudem haben viele Landwirte ihre Milchquote, die sie zur Lieferung einer gewissen Milchmenge benötigen, nur gepachtet, so daß sie von den 26 Cent auch noch Pacht zahlen müssen. Foto: pa


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