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21.08.04 / Im Paradies der Jugendzeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / 21. August 2004


Im Paradies der Jugendzeit
von Alfred Wenig

Die Alle war eine der größten Schätze meiner Jugendjahre. Unter alten Erlen, Weiden und Rüstern zog sie, einer Schlange gleich, durch die unvergleichlich schöne, teilweise urwaldähnliche ostpreußische Landschaft. Es war ein Paradies für Pflanzen und Tiere. Unaufhörlich, sicher schon viele hundert Jahre, wälzten sich die Wassermassen des knapp 300 Kilometer langen Flusses der Mündung in den Pregel entgegen.

Ich erinnere mich: Es war ein schöner Sommermorgen, als mein Vater mich an die Hand nahm und mit mir den Feldweg über den Lehmberg ging. An unserer Feldscheune verweilten wir und sahen uns die Schnitzereien in der Holzverkleidung des Giebels an. Es waren Namen und Jahreszahlen, die weit in die Vergangenheit reichten. Vater erklärte mir, daß dies Namen von Hirtenjungen waren, die früher, als es noch keine Weidezäune gab, die Kühe gehütet hatten. Diese Feldscheune war damals wohl ihr Treffpunkt.

Wir gingen weiter und erreichten bald die Alleschluchten, wo sich das Weidegebiet für unser Jungvieh befand. Wir liefen die Schluchten ab und fanden bald die Herde, 14 Stück an der Zahl, an einer Wasserstelle. Vater sagte mir, daß er diese Kontrollen fast täglich mache, denn die Schluchten mit dem dichten Baumbewuchs seien nicht ungefährlich. Dann meinte er, dies würde doch eine verantwortungsvolle Aufgabe für mich sein, und er würde sich freuen, wenn ich sie übernähme. Ich war damals zehn Jahre alt und sehr stolz auf das Vertrauen meines Vaters.

Auf einmal blieb er wie angewurzelt stehen und bedeutete mir, ebenfalls innezuhalten. Vor uns sahen wir einen Fuchsbau, davor spielten junge Füchse unter Aufsicht ihrer Mutter in der hellen Morgensonne. Leider witterten die Tiere uns bald, und aus war es mit dem Vergnügen.

Allmählich näherten wir uns der Alle, und ich hörte ein Rauschen aus der Ferne. Der Anblick des Flusses von einer Anhöhe war für mich ein überwältigendes Naturschauspiel. Die überhängenden Uferbäume bildeten einen Baldachin über dem Fluß und ließen nur vereinzelt die Sonne durchscheinen - ein faszinierendes Schattenspiel. Wir sahen einen einsamen Fischer mit seiner Senke, und Vater meinte: "Das ist wohl unser Schmiedemeister, der sich dort sein Mittagsmahl fängt." Wir störten ihn nicht und suchten uns einen Weg durch den Schlehdorn zum Ufer.

Der Weg war beschwerlich, wir kamen nur langsam voran. Immer wieder mußten wir durch dorniges Gestrüpp und über vermoderte Baumstämme steigen. Dann tauchte vor uns die hölzerne Allebrücke auf mit ihren zwei gewaltigen Eisbrechern, die im Frühjahr die Brücke gegen das Treibeis sichern sollten. Stromaufwärts vor der Brücke war eine Lichtung, wo es keine Uferbäume gab. Dort an diesem Ufer war im Sommer unsere Badestelle, wo sich die Roggenhausener Jugend an den lauen Abenden traf, um sich in den kühlen Fluten zu vergnügen. Dort lernte ich das Schwimmen und war richtig glücklich, als ich zum erstenmal den "Strom" durchschwamm.

Eine Zeitlang standen wir noch auf der Brücke und schauten auf die dahinfließenden Fluten und Stromschnellen, in denen sich immer wieder neue Strudel bildeten; für Schwimmer nicht ganz ungefährlich. Langsam wurde es Zeit für uns, den Heimweg anzutreten.

Zuerst gingen wir den Alleberg hoch. Noch heute erinnere ich mich an die halsbrecherischen Abfahrten mit dem Fahrrad, wenn wir zu unserer Badestelle fuhren. Weiter gingen wir den Settauer Weg entlang und waren bald zu Hause. Damals ahnten wir noch nicht, daß bald Flüchtlingsströme diesen Weg zur Allebrücke als letzten Ausweg benutzen würden. Danach wurde die Brücke im letzten Moment gesprengt; sie wurde nie wieder aufgebaut.

In den nächsten Wochen ging ich täglich zur Alle, immer gleich nach der Schule, um unser Jungvieh zu kontrollieren. Alles wurde für mich langsam zur Routine, bis eines Tages ein Tier fehlte. Immer wieder zählte ich, aber ich konnte nur 13 Jungtiere entdecken. Pflichtbewußt suchte ich lange die Schluchten ab, bis ich das fehlende Tier entdeckte. Es war von einem Hang in eine Baumgabel gesprungen und hatte sich dort festgeklemmt. Verzweifelt versuchte es, loszukommen und blutete schon aus mehreren Wunden. Ich lief nach Hause und berichtete meinem Vater, der sofort eine Axt schulterte, und dann liefen wir beide, um das Tier aus seiner gefährlichen Lage zu befreien.

Vater gelang es bald, die eine Baumgabel zu fällen, und das arme Tier sprang erleichtert in die Freiheit und lief zu seiner Herde. Es hatte außer einigen Abschürfungen keinen Schaden genommen. Ich wurde von meinem Vater sehr gelobt, und lange Zeit war ich der Held der Familie. Das motivierte meine beiden jüngeren Brüder, mich in Zukunft auf diesen Viehkontrollen zu begleiten.

Bald gab es dort keinen Baum mehr, den wir nicht erklettert hatten. Nur ein wilder Birnbaum, dessen Früchte meine Mutter so liebte, widersetzte sich mit seinen Dornen unserer Kletterkunst. In unserem Erlengrund an einem Bach, einem der vielen Zuflüsse der Alle, bauten wir aus Ästen und altem Holz eine Hütte, die bald unser Erlebnis-Zentrum wurde und uns bei schlechtem Wetter Schutz bot. Später bastelten wir mit unserem Vater eine Wassermühle, die nun im Bach neben unserer Hütte ununterbrochen melodisch vor sich hinplätscherte.

Am liebsten aber spielten wir an der Alle. Mit selbstgemachten Angeln versuchten wir uns beim Fischfang. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Fisch gefangen zu haben. Auch mit Pfeil und Bogen vorbeischwimmende Fische zu treffen, gelang uns nicht.

Eines Tages kam meine ältere Schwester auf die Idee, mit uns zu gehen; sie wollte uns auf ihrem Puppenherd Essen kochen. Dieser Spielzeugherd war natürlich gänzlich ungeeignet. Deshalb mauerten wir in der Hütte einen richtigen Herd aus Steinen mit einem Schornstein durch das Dach. Für die Beschaffung von Brennholz waren wir Jungens zuständig. Eva war eine begnadete Köchin, uns schmeckten ihre Pellkartoffeln vorzüglich.

Für uns Kinder wurde dieser Ort das schönste Stückchen Heimaterde, und wir waren dort so glücklich, wie man als Kind nur sein kann. Der Gedanke, daß sich dieses ändern könnte, ist uns nie gekommen. Nur ein paar Jahre später wurden wir aus diesem Paradies vertrieben.

Die Alle, die heute polnisch ist und Lyna heißt, hat ihren Charakter behalten. Ruhig fließt sie, als ob nichts geschehen wäre, in ihrem alten Lauf - wie seit Hunderten von Jahren.

Die Alle bei Bertung südlich von Allenstein: Hier zieht der Fluß noch geruhsam dahin. Foto: Romey


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