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28.08.04 / Das Kernproblem bleibt unbeachtet / In Deutschland, Österreich und der Schweiz beherrscht vor allem Einfältigkeit die Rechtschreibdebatte

© Preußische Allgemeine Zeitung / 28. August 2004


Das Kernproblem bleibt unbeachtet
In Deutschland, Österreich und der Schweiz beherrscht vor allem Einfältigkeit die Rechtschreibdebatte

Bei einem Treffen von Spitzenbeamten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde ein Vorstoß der deutschen Mitglieder der "Zwischenstaatlichen Kommission für die deutsche Rechtschreibung" bekannt. Sie wollen einen Entwurf vorlegen, wie die Arbeit und Gestaltung des Rechtschreibrates aussehen soll. Das Gremium soll nach Abschluß der Übergangsphase der Rechtschreibreform im Sommer 2005 künftig die Entwicklung der Sprache begleiten. Die Kompetenzen des Rates für eventuelle Änderungen von Schreibweisen sind noch nicht festgelegt. Doch auch in ihrer jüngsten Neuauflage droht die Rechtschreibdebatte in Kleinkram, Scheinargumenten und Eitelkeiten zu versanden. Das Kernproblem aber, die falsche Zielsetzung, bleibt weiter unbeachtet!

Es sei daran erinnert, daß der Anstoß ursprünglich von Leuten ausging, die eine Radikalreform als Instrument der "Vergangenheitsbewältigung" wollten: Wie mit den bolschewistischen und maoistischen Schriftreformen sollte "das Alte" für die Jungen möglichst gar nicht oder nur "aufbereitet" lesbar werden. Pseudo-humanistische und pseudo-ökonomische Floskeln dienten als Tarnung - wie heute auch für den Murks, der letztlich herauskam.

Eine echte Reform ist eine Investition: Der Nutzen muß die Kosten übersteigen, und Fehlinvestitionen hat man abzuschreiben, statt ihnen gutes Geld nachzuwerfen. Ob eine Reform durchzuführen, zu unterlassen oder zu anullieren ist, läßt sich nur mit Blick auf ein übergeordnetes Ziel bewerten. Konkret: So wie der Zweck des Sprechens das Verstandenwerden ist, hat analog dazu die Schrift primär der Lesbarkeit zu dienen. Die Bequemlichkeit der Schreiber ist kein legitimes Ziel, sondern bestenfalls Nebeneffekt - schließlich wird zigtausendmal mehr gelesen als geschrieben.

Im Gehirn, einem "parallelen" Prozessor, entsteht Verständnis nicht aus serieller Analyse von einzelnen Sprachlauten oder Buchstaben, sondern aus dem Gesamtbild. Satzmelodie, Betonungen, Verbindungen und Pausen spielen eine wesentliche Rolle. Schriftlich lassen sich diese durch Zusammen- oder Getrenntschreibung, Bindestriche und andere Satzzeichen ausdrücken. Und selbst wenn das nur unvollständig geht, man kann es eben besser oder schlechter tun!

Die oktroyierte Reform aber hat die Lesbarkeit eindeutig verschlechtert - selbst für die Jungen, die noch nichts anderes kannten. Sie brachte zwar einen gewissen Beschäftigungseffekt, nur wäre dieser - wie bei "Öko" - gesünder und mit weniger Energieverbrauch zu erreichen gewesen: Schaufel nehmen, Löcher graben und wieder zuschütten!

Die Kulturbürokratie plädiert trotzdem fürs Weitermachen. Frau Ahlen, Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, meint etwa, die Deutschen hätten "ganz andere Sorgen" als eine Reform der Reform. Dieselben Sorgen gab es allerdings schon vor der "Reform", und wenn sie mittlerweile größer wurden, liegt das nicht zuletzt an ideologisch motivierten Fehlininvestitionen Marke "Öko" und "Ortho". Ach ja, man sorgt sich vor allem um die Jungen: Die "Reform" solle es ihnen erleichtern, fehlerfreie Bewerbungsschreiben abzufassen. Heilige Einfalt! Rechtschreibung funktioniert doch nur zusammen mit Wortschatz und Grammatik, und die Sprache steht oder fällt mit dem Allgemeinwissen ihrer Benutzer. Dazu kommt, daß selbst die besten Bewerbungsschreiben keine Arbeitsplätze schaffen.

Grüne waren meist gegen die "Reform", weil sie nicht dem bolschewistischen Maximalismus entspricht, sind aber ebenso gegen ihre Aufhebung. Auch die übrigen 68er, von denen etliche heute in "bürgerlichen" Regierungen sitzen, sind gegen eine Umkehr, denn keiner will als Reaktionär gelten. Aber selbst die "Alpenfestung" wird ihnen nichts helfen, denn es gibt keine Wunderwaffen gegen die normative Kraft des Faktischen. - Sehr bezeichnend ist übrigens, daß niemand jene Medien und Verlage erwähnt, die standhaft bei der altbewährten Ordnung geblieben waren. R. G. Kerschhofer


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