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04.09.04 / Es gibt so unendlich viele Reiseziele

© Preußische Allgemeine Zeitung / 04. September 2004


Es gibt so unendlich viele Reiseziele
von Willi Wegner

Auf Bahnhöfen geschehen oft recht merkwürdige Dinge. Das Mädchen, von dem die Rede ist, trug eine Stupsnase (diese recht hoch) und zwei Koffer. Der junge Mann trug sich mit dem Gedanken, eine Zeitung für die Reise zu kaufen, ebenfalls zwei Koffer und die Schuld daran, daß das Mädchen und er in der Bahnhofshalle vor dem Zeitungskiosk zusammenstießen.

Einige der Gepäckstücke fielen zu Boden, und einer der Koffer öffnete sich. Ein malerischer Anblick! Grellgestreifte Damen-Pyjamas, durchsichtige Strumpfgewebe, buntseidene Hauchwäsche. Der junge Mann schlußfolgerte messerscharf, daß sich nicht etwa einer seiner Koffer geöffnet haben mußte, sondern einer, der dem Mädchen gehörte.

"Frechheit!" schimpfte das Mädchen, kniete nieder und bemühte sich, seinen Koffer wieder einzuräumen. Herumstehende Zuschauer sahen ihr dabei lächelnd und mit großem Interesse zu. "Verzeihung", sagte der junge Mann, "es war meine Schuld!" - "Daran besteht kein Zweifel!" sagte das Mädchen.

Wohin sie wohl fährt? dachte der Mann. Ich will mit dem Zug nach Garmisch. In Urlaub. Ob sie auch nach Garmisch will? Aber solche Zufälle gibt es wohl nicht. "Darf ich helfen?" erkundigte er sich bei der vor ihm Knieenden. "Unterstehen Sie sich!" sagte das Mädchen.

Einen winzigen Augenaufschlag könnte sie mir schon schenken für die ihr angetragene Hilfsbereitschaft, dachte der junge Mann. Sie blickt nicht ein einziges Mal zu mir herauf. Sie behandelt mich wie Luft. Dabei könnte ich es mir geradezu himmlisch vorstellen, wenn wir beide in den nächsten Zug stiegen und zusammen in die Ferien führen. "Da hängt noch ein Stückchen rosa Seide heraus, Fräulein", sagte er.

Nun geschieht etwas Unvorhersehbares. Sie schaut hoch. Sie schenkt ihm endlich doch den gewünschten Augenaufschlag. Sie lächelt sogar. "Vielen Dank", sagt sie. "Aber bitte stehen Sie nicht so herum! Sehen Sie denn nicht, daß ich dieses Mistding nicht wieder zukriege?!"

Ihr Koffer ist wirklich ein Mordsmonstrum! Erst als der junge Mann sich fünfmal mit aller Wucht auf ihn gesetzt hat, schnappt er endlich zu. Noch nach Luft ringend, fragt der Mann: "Fahren Sie auch nach Garmisch?" - "Wieso sollte ich nach Garmisch fahren?" fragt das Mädchen. Es ist ja wahr, denkt der junge Mann, es gibt mindestens 9.758.463 Reiseziele. Warum also ausgerechnet Garmisch? "Natürlich fahren Sie nach Italien", sagt er. "Nein", sagt sie. "Nach Frankreich?" - "Nein." - "Nach Spanien?" - "Nein." - "Noch weiter?" Der junge Mann rechnet. Ich könnte, falls sie beispielsweise nach Griechenland fährt, umdisponieren und unterwegs Geld abheben. Ich könnte durchaus auch nach Athen fahren, wenn ihre Reise dorthin geht. "Fahren Sie etwa nach Athen?" - "Nein!" sagt die Kleine. "Übrigens - Sie nerven mich!"

Sie macht es mir wirklich schwer, denkt der junge Mann. Aber ich erkenne am Beben ihrer Stupsnase, an ihrem spitzbübischen Lächeln, daß ich ihr nicht ganz unsympathisch bin. Vielleicht gibt es doch noch einen gemeinsamen Urlaub. Während er nach den vier Koffern greift, nach ihren beiden und seinen beiden, fragt er: "Nun spannen Sie mich nicht länger auf die Folter - wohin fahren Sie denn wirklich?" Da sagt sie: "Draußen, vorm Bahnhof, werde ich in ein Taxi steigen - und dann fahre ich nach Hause!" - "Nach Hause?" - "Ja! Ich komme eben aus Österreich zurück. Meine Ferien sind leider zu Ende. Es war herrlich, aber morgen muß ich wieder arbeiten. Servus, mein Lieber, und viel Spaß im Urlaub!"

Der junge Mann fuhr nach Garmisch. In seinem Abteil saß ein nettes junges Mädchen. Und das fuhr auch nach Garmisch.


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