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Preußische Allgemeine Zeitung / 11. September 2004
Die schrecklichen Bilder des Geiseldramas von Beslan sind noch
allgegenwärtig, Angehörige von rund 120 Vermißten suchen verzweifelt in den
Trümmern der Schule nach ihren Kindern, sie laufen hilflos mit Fotos in
Krankenhäusern, Leichenhallen und Trümmerhaufen umher; vergeblich, denn die
russischen Behörden leisten ihnen keinerlei Hilfe. Im Gegenteil: an einer
lückenlosen Aufklärung der Geiselnahme und wie es überhaupt dazu kommen
konnte, ist der Kreml nicht interessiert. Schon der Umgang mit den Zahlen der Opfer (laut offiziellen russischen
Angaben 335 Tote, inoffiziell über 400) zeigt, wie verkrampft Moskau versucht,
über das offensichtliche Versagen seiner Eliteeinheiten hinwegzutäuschen. Dies
ruft die Kritik der in ihrer Berichterstattung schon seit langem
eingeschränkten Medien und vieler Intellektueller auf den Plan. Der Politologe Stanislaw Belkowski kritisierte, daß in Beslan kein einziger
politisch Verantwortliche vors Volk getreten ist, vom jüngst gewählten
tschetschenischen Präsidenten Alchanow nichts zu hören und zu sehen war. Dies
habe das Vertrauen in die Regierung und die Sicherheitskräfte tief
erschüttert. Putin wandte sich erst drei Tage nach den Ereignissen in einer
Fernsehansprache ans Volk, in der er das Vorgehen der Terroristen moralisch
verurteilte und die Menschen aufrief, Stärke zu zeigen. Damit zeigten sich auch
die Kritiker einverstanden. Lediglich der Ethnologe Sergej Arutjunow (Spezialist
für Völker des Kaukasus) sprach sich öffentlich für eine Abtrennung
Tschetscheniens von der Russischen Föderation aus. Einem solchen Schritt wird
die russische Regierung jedoch nicht zustimmen können, weil die Gefahr der
Bildung eines Terrorstaates unter Führung islamistischer Fundamentalisten
ernsthaft zu befürchten ist. Emotionslos wie Putins Rede gehalten war, sollten
auch die Massenmedien berichten. Der Chefredakteur der Izvestija wurde vom Dienst suspendiert, weil die
Zeitung Bilder des Sturms auf die Schule und der Opfer veröffentlicht hat und
in der Zeitung Augenzeugen zu Wort kamen. Dem Journalisten wurde untersagt,
Interviews zu den Gründen für seine Beurlaubung zu geben. Westliche Agenturen
vermelden, daß inzwischen Journalisten aus Beslan verwiesen wurden, weil sie
angeblich nicht über die notwendigen Genehmigungen zur Berichterstattung
verfügten. Diese Maßnahmen konnten allerdings nicht verhindern, daß gerade von seiten
der russischen Presse scharfe Kritik am Vorgehen der Regierung geübt wurde. In
der Bevölkerung wachsen Unmut und Unbehagen über die mangelnde Sicherheit. Die ansonsten regierungstreue Prawda wagte es, das Schweigen der politischen
Parteien zu kritisieren, und beklagte sogar, der russische Normalbürger habe
zuerst von ausländischen Medien über Terrorakte in Rußland erfahren müssen,
die eigenen Medien hätten mit erheblicher Verspätung informiert. Mutig äußerte sich der Publizist Leonid Radsichowskij in einer Radiosendung
von Echo Moskwa. Er sprach von einer groß angelegten geopolitischen Operation,
die von Al Quaida gesteuert sei und eine Kriegserklärung an Rußland bedeute.
Radsichowskij räumte zwar ein, Putin habe strategisch richtig gehandelt,
taktisch träte jedoch der Zustand des russischen Staates offen zutage, der im
Grunde gar kein Staat mehr sei, da die Duma nur noch eine politische Institution
willenloser Beamter sei, die sich um den Zustand ihrer Datschen und die Höhe
ihrer Bezüge sorgten anstatt irgendjemandes Interessen zu vertreten. Den
Zustand der Sicherheitskräfte wie FSB, Alpha-Truppen - also der Eliten des
Landes - und des Militärs bezeichnete der Politologe als besorgniserregend und
gefährlich. Wenn eine Truppe von 1.000 Mann der besten Spezialeinheiten zehn
Stunden lang von etwa 30 Kämpfern in Kampfhandlungen verwickelt werden könnte,
sei es um die innere Sicherheit des Landes schlecht bestellt. Ähnlich äußerte sich Stanislaw Belkowski gegenüber der Nesawisimaja
Gaseta (Unabhängige Zeitung) zu den Folgen von Beslan und zur
Einparteienpolitik des Kremls. Die Duma sei zur Parodie eines Parlaments
verkommen. Nur wenn es gelänge, neue nationale Eliten zu bilden, die in der
Lage seien, dem Volk gegenüberzutreten, hätten die Tragödien der vergangenen
Wochen und Monate zur Stärkung der Regierung und des Staates beigetragen. Putin
habe bislang nichts von dem erreicht und es sei durchaus denkbar, daß die Ära
Putin in absehbarer Zeit zu Ende gehe. Ihm fehlten die Voraussetzungen zum
Regieren, nämlich neue Projekte und eine Ideologie. Manuela Rosenthal-Kappi Rußland gegen den Terrorismus: Hunderttausende demonstrierten in Moskau und
anderen Städten. Foto: pa |