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11.09.04 / "Verblendetes Harakiri" / EU-Beitritt der Türkei käme schon aus ökonomischen Gründen einem Selbstmord gleich

© Preußische Allgemeine Zeitung / 11. September 2004


"Verblendetes Harakiri"
EU-Beitritt der Türkei käme schon aus ökonomischen Gründen einem Selbstmord gleich
von K. Hornung

Im Dezember dieses Jahres werden die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten wohl über den Beginn der Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union entscheiden - entgegen der Mehrheitsmeinung in allen EU-Ländern. Es erscheint dringend nötig, die öffentliche Meinung aufzuklären, wie abenteuerlich, ja selbstzerstörerisch die Idee der EU-Mitgliedschaft der Türkei für Europa tatsächlich ist.

Das beginnt mit den nüchternen Daten zur Bevölkerungsexplosion und Wirtschaftslage der Türkei. Vor einem halben Jahrhundert, am Ende des Zweite Weltkrieges betrug deren Bevölkerung knapp 40 Millionen. Heute hat sie bereits 70 Millionen erreicht. In wenigen Jahren wird sie bei etwa 80 Millionen liegen; im Jahr 2050 rechnet man mit rund 100 Millionen. Die Türken wären dann das weitaus größte Volk der EU. Seit Jahrzehnten ist eine extreme Binnenwanderung im Gang, die ländliche Regionen stetig entleert und die Menschen in Megastädten zusammenballt. So ist Istanbul in den letzten 40 Jahren von zwei auf mindestens 16 Millionen Menschen angewachsen. Keine Wirtschaftsentwicklung kann mit dieser demographischen Explosion mithalten. So liegt derzeit das Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei immer noch bei 2.530 Dollar, während es in der bisherigen EU der 15 bei 24.500 Euro liegt, in Deutschland bei 23.560 Euro, in einem osteuropäischen Land wie Polen immerhin bei 10.350 Euro. Allein diese Diskrepanz müßte die EU auf unabsehbare Zeit wirtschaftlich und finanziell ruinös überfordern. Die westlichen Finanzhilfen für die Türkei seit dem Zweiten Weltkrieg, vor allem die der USA, aber auch der Europäer, waren gigantisch. Selbst bei wohlwollender Berechnung lagen im Jahr 2001 die Auslandsschulden der Türkei bei rund 115 Milliarden und 118 Millionen Dollar. Noch im Jahr 2002 gallopierte die Inflation mit 74 Prozent; inzwischen gelang es, sie auf wenigstens 44 Prozent abzubremsen.

Nach dem Ersten Weltkrieg hatte der "Vater der modernen Türkei", Kemal Atatürk, mit der Modernisierung des Landes nach europäischem Vorbild begonnen. 1922/23 wurde die Monarchie mit ihrer Einheit von weltlicher und geistlicher Macht abgeschafft, in der die osmanischen Sultane zugleich die Kalifen der islamischen Welt gewesen waren. Atatürk verfügte den Wechsel von der arabischen zur lateinischen Schrift, die Abschaffung des Schleiers für die Frau, die Einführung des europäischen Rechtssystems anstelle des traditionellen islamischen. Die Türkei wurde zu einer laizistischen Republik mit staatlichen Institutionen des europäischen und demokratischen Typs. Doch diese Verwestlichung beschränkte sich im wesentlichen auf den politischen Überbau und drang nicht bis zur sozioökonomischen Basis durch. Bis heute ist die tiefe Kluft zwischen der Oberschicht der Grundbesitzer und einer wohlhabenden städtischen Unternehmerschaft auf der einen Seite sowie der Mehrheit der armen Bauern und Pächter sowie der arbeitenden oder auch arbeitslosen Massen in den Ballungsgebieten anderseits unübersehbar. Sie hat nach 1945 mehrfach zu schweren Krisen geführt, zeitweilig auch zu vorbürgerkriegsartigen Zuständen und zur Entwicklung eines Links- und Rechtsextremismus, Krisen, durch die die Armee als Treuhänder der Ideen Atatürks und ihres Laizismus sich immer wieder zu Eingriffen in den politischen Prozeß gezwungen und berechtigt sah, sogenannten "Korrektur-Revolutionen" (vor allem 1960 und 1980), die Parteien und Parlament zeitweilig durch Militärdiktaturen, wenn auch in ziviler Verbrämung, ersetzten, einer Herrschaftsform im Interesse der städtischen kemalistischen und laizistischen Oberschichten und der von ihnen "gelenkten" Demokratie.

Kemal Atatürk hatte mit der in den 20er Jahren modernen Form des Einparteienstaates seiner Republikanischen Volkspartei begonnen. Sein Nachfolger Ismet Inönü (ab 1938), der ebenfalls aus dem Militär kam und ein Held des Befreiungskampfes ab 1919 war, führte nach dem Zweiten Weltkrieg vorsichtig ein Zweiparteien-System ein, auch um den Amerikanern und den Europäern als Nato-Verbündeten zu gefallen. In den 50er Jahren hatte die Demokratische Partei die Volkspartei in der Regierung abgelöst. In ihr versammelte sich sowohl die kemalistische Staatswirtschaft als auch Repräsentanten der ländlichen Bevölkerung, unter der sich erste Reislamisierungstendenzen abzeichneten. Durch den Militärputsch von 1960 wurde diese Regierung unter Adnan Mederes wieder aus der Macht vertrieben, Mederes sogar hingerichtet. Die Repression konnte freilich wachsende Konflikte zwischen Links- und Rechtsextremisten ebenso wenig verhindern wie die schleichende Re-islamisierung vom Lande her. Sie erhielt einen neuen, bis heute anhaltenden Impuls, als nach dem Sieg der Israelis im Sechstagekrieg (Juni 1967) in der arabischen Welt des Nahen und Mittleren Ostens jene Renaissance des Islam einsetzte, die dann mit Verzögerung seit den 80er Jahren auch auf die Türkei übergriff. Sie sammelte sich hier in der Wohlfahrtspartei des Islamisten Necemettin Erbakan, die erstmals 1994 die Regierung stellte gegen den harten Widerstand der alten urbanen Schichten aus Parteien, Militär und Wirtschaft.

Erbakans politischer Ziehsohn war Recep Tayyip Erdogan (Jahrgang 1954) der 1994 populärer Bürgermeister Istanbuls wurde. Er wurde 1998 zu einer mehrmonatigen Haftstrafe wegen "Volksverhetzung" und lebenslangem Politikverbot verurteilt, weil er in einer Rede von den Moscheen als "unseren Kasernen" und ihren Minaretten als "unseren Bajonetten" gesprochen hatte. Er setzt sich in der Folgezeit aber immer mehr von Erbakan ab und gründete 2001 seine eigene "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP), die am 3. November 2002 einen Erdrutschsieg gegen die alten Parteien errang, mit 34 Prozent der Stimmen weitaus stärkste Partei wurde und nach dem türkischen Wahlgesetz damit 66 Prozent der Sitze in der Großen Nationalversammlung gewann. Mit 363 von 550 Parlamentssitzen fehlten ihr nur wenige Mandate zur verfassungsändernden Mehrheit. Nach Aufhebung seines Politikverbots wurde Erdogan am 12. März 2003 türkischer Ministerpräsident.

Seinen durchschlagenden Erfolg verdankt er der tiefgreifenden Unzufriedenheit der Bevölkerung über die alten korrupten Parteien, denen er das Versprechen einer Erneuerung des Landes an Haupt und Gliedern durch einen modernen Islam entgegenstellte. Die Türkei soll durch diese modernisierenden Reformen mit Europa kompatibel werden. Sie betonen daher die Menschenrechte, wie sie heute in Europa en vogue sind, die Unabhängigkeit der Justiz, die Abschaffung der Folter, die Zurückdrängung des Einflusses des Militärs und die volle Budgethoheit des Parlaments auch über die Militärausgaben - sämtlich Programmpunkte, die ihn in Europa willkommen erscheinen lassen müssen. Erdogans Anpassungskurs geht so weit, daß er seine Partei gern als so etwas wie eine türkisch-islamische CDU darstellen möchte, die in der EU dann der konservativen Europäischen Volkspartei beitreten würde und als ihr ideelles Fundament ein "islamisches Menschenbild" in Anspruch nimmt wie die CDU ein christliches.

Wie ist dieser auf Europa hinzielende türkische Reformprozeß derzeit zu beurteilen? Der bisherige EU-Erweiterungskommissar Verheugen hat mehrfach von einen "beeindruckenden Reformtempo" gesprochen. Formal wurden in der Tat Todesstrafe und Folter ebenso abgeschafft wie die parlamentarische Kontrolle des Militärs verstärkt und die Rechte der Minderheiten, zum Beispiel der Kurden, erweitert. Aber für die immer noch tief orientalisch verwurzelte türkische Gesellschaft gilt der Satz "Das Land ist groß und der Zar (die Regierung) ist weit." Türkische Menschenrechtsorganisationen haben für das Jahr 2003 trotz formellen Verbots Hunderte von Folterfällen festgestellt. Die Regierung in Berlin hat daraufhin sogar die Auslieferung von Leopard-Panzern für die türkische Armee gestoppt. Wie verträgt sich das mit dem beginnenden Beitrittsprozeß für die Türkei? Die Frage nach der Realität und nach der Stabilität des Reformprozesses bleibt jedenfalls auf der Tagesordnung. Wie verträgt sich der angeblich moderne Islam der türkischen Regierung mit ihren engen Kontakten zu der eindeutig islamistisch militanten Organisation Milli Görüs in Deutschland, unter deren Mitgliedern der deutsche Verfassungsschutz zwischen 25.000 und 40.000 militante Islamisten ausgemacht hat?

Nach allem, was wir erkennen können, verfolgt der türkische Ministerpräsident Hand in Hand mit den Spitzenpolitikern in Berlin ein großes Projekt zum beiderseitigen parteipolitisch-ideologischen Nutzen. Erdogans Interesse ist dabei ebenso schlicht wie (aus seiner Sicht) verständlich. Die wirtschaftliche Lage der Türkei ist derart dramatisch, daß ihr nur durchschlagende Maßnahmen Abhilfe schaffen können: Der Export von Millionen Menschen des türkischen Bevölkerungsüberschusses nach Europa, besonders natürlich in das seiner selbst so unsichere Deutschland in der Mitte des Kontinents, bei gleichzeitiger massiver Wirtschafts- und Finanzhilfe des (aus türkischer Sicht) immer noch so reichen Europa und auch, wie bisher schon, der USA. Gleichzeitig soll die systematische Landnahme der islamischen Türken in Europa den ganzen Prozeß unumkehrbar machen und materiell und ideologisch fundieren. Für die Regierung Schröder-Fischer bedeutet das Projekt eine einschneidende Etappe auf dem Weg zur Verwandlung Deutschlands in eine multikulturelle Gesellschaft. Die derzeitige rot-grüne Bundesregierung verdankt ihre Existenz jenen 80 Prozent von 600.000 türkischen Wählern, die 2002 die deutsche Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht besaßen. Ihre wachsende Zahl soll die rot-grünen Wahlerfolge auch für die Zukunft zementieren. Zu Recht hat die CDU-Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld in diesem Zusammenhang den Berliner Spitzen von Rot-Grün das Recht abgesprochen, weiterhin als Interessenvertreter des deutschen Volkes aufzutreten, und sie "Erzieher, Überwinder, Zerstörer" des eigenen im Geist des ewigen Jakobinertums genannt. Sie werden auch in Zukunft in der Auseinandersetzung um den türkischen EU-Beitritt und weitere türkische Zuwanderung nach Deutschland unentwegt die Keulen der "Fremdenfeindlichkeit" und des "Rassismus" schwingen, um sich gegen das eigene Volk durchzusetzen, das beides zu wenigstens zwei Dritteln ablehnt.

Auch wenn die politischen Klassen es gerne hätten: Die Entscheidung ist noch keineswegs gefallen, der Widerstand dagegen wird eher stärker. In Frankreich zum Beispiel findet Präsident Chirac, der sich auch hier einmal mehr zum Sprecher französischer Konzerninteressen am profitablen türkischen Markt gemacht hat, wachsenden Widerstand auch in seiner eigenen Gefolgschaft, wo man sich im klaren ist, daß die EU mit der Türkei als Mitglied nicht mehr politisch handlungsfähig wäre. In Deutschland kommen die Gegner aus allen parteipolitischen Lagern. So betont der SPD-nahe Historiker Hans-Ulrich Wehler in der Beilage der offiziösen Wochenzeitung Das Parlament unter der Überschrift "Verblendetes Harakiri" mit Deutlichkeit: "Die Türkei ist ein kleinasiatischer, nichteuropäischer Staat, dessen Aufnahme das großartige Projekt der politischen Einheit Europas torpedieren würde. Sie gehört einem anderen Kulturkreis an" und ihre Bevölkerung teile nun einmal nicht "das historisch gewachsene europäische Identitätsbewußtsein". Wehler fragt, wie man denn plötzlich die faktische Einparteienherrschaft der Partei Erdogans als attraktiv empfinden könne. "Das proeuropäische Kalkül der Regierung Erdogan ist leicht zu erkennen: Der Zugang zu den europäischen Wirtschafts- und Finanzressourcen ist äußerst attraktiv. Er gestattet auch eine großzügige Bedienung der eignen Klientel. Die europäische Religionsfreiheit schützt auch den Islamismus samt seiner ungestörten Weiterentwicklung. Das Militär wird entmachtet, damit entfällt aber der Hüter des kemalistischen Erbes in der laizistischen Republik." Viel wichtiger sei es, daß Europa endlich seine Grenzen definiert, anstatt womöglich auch Ländern wie der Ukraine, Georgien, Armenien oder Marokko Beitrittshoffnungen zu machen: "Warum sollte sich die EU so charmante Nachbarn wie den chaotischen Irak, die syrische Diktatur, die iranische Theokratie und erodierende Staaten wie Georgien und Armenien freiwillig zulegen?" Auch Wehler kritisiert deutlich die Rhetorik der gegenwärtigen Bundesregierung, hinter der sich nur "unredliche oder parteiegoistische Hoffnungen, die der Dimension der Problematik völlig unangemessen sind", verbergen.

Die Säkularisten in den europäischen politischen Klassen betonen immer wieder, die Europäische Union sei kein "christlicher Klub", um die Aufnahme eines islamischen Staates zu rechtfertigen. Doch ist dieses "unser" Europa nun einmal seit über eineinhalb Jahrtausenden christlich geprägt worden und hat sich in drei großen Kulturräumen entfaltet: dem lateinisch-katholischen Mittelmeerraum samt Polen und Litauen im Nord-osten, dem germanisch-protestantischen Mittel- und Nordeuropa bis zum Baltikum sowie in der osteuropäischen Orthodoxie in Griechenland, Rumänien und Bulgarien. Dieses große historisch-kulturelle Erbe zu übersehen oder zu relativieren, würde aus Europa einen gesichtlosen "Großraum" machen, der sich in der globalisierten Welt nicht zurechtfinden würde.

Wer es realpolitisch gewendet haben will: Die Türkei befindet sich seit langem in einer schweren ökonomischen und gesellschaftlichen Krise, ist hoffnungslos überschuldet und wäre ohne fremde Hilfe längst bankrott. In dieser Situation würde die EU, wollte sie als Sanierer auftreten, sich angesichts ihrer eigenen schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg hoffnungslos übernehmen und ruinieren. Das Projekt Türkei-Beitritt ist Ausdruck einer auch sonst nicht unbekannten eigentümlichen Hybris der europäischen politischen und ökonomischen Klassen. Nicht nur der Historiker kann erkennen: Dieser Hoch- mut käme mit geschichtlicher Sicherheit vor dem Fall. Das Projekt gleicht dem Sprung mit verbundenen Augen in einen Abgrund, einem "verblendeten Harakiri".

Wo bitte geht es nach Europa? Jacques Chirac zeigt dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan gern den Weg in die Gemeinschaft. Wenn die EU die Beitrittskriterien als erfüllt betrachtet, ist womöglich schon Anfang 2005 die Aufnahme konkreter Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu erwarten. Foto: Reuters


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