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Preußische Allgemeine Zeitung / 18. September 2004
Es ist das Jahr der Wahlen und Hartz IV bestimmt die Stimmung der Wähler und damit die politische Landschaft der Bundesländer mit Konsequenzen auf Jahre wie kaum ein anderes Thema das bisher vermochte. Der "Sozialstaatsumbau" und die "Reformen" erhitzen die Gemüter. Dem Ausland scheint es, als würde die sich abzeichnende Lösung zum Problem erklärt - doch diesmal kann Deutschland von Europa lernen und sollte das auch. Verlief die bayerische Landtagswahl noch nach gängigen Mustern des Parteienwettbewerbs, so zeichnete sich danach auf dem Hintergrund permanenter Reformdebatten und den mehr oder weniger gelungenen Umsetzungsversuchen ein Vertrauensverlust der Bürger ab: Bei den Hamburg-Wahlen bekam die SPD die Quittung für ihre flickschusternde Politik auf Bundesebene, in Thüringen gewann so richtig nur die PDS dank ihrer vermeintlichen sozialen Gesinnung und selbst an der Saar hat der Sieg der CDU einen schalen Beigeschmack. Die beiden Volksparteien verlieren ihr Volk. Sie verlieren Wähler und Vertrauen, denn ihr Kurs ist unklar. NPD und PDS brauchen in diesem Fall nicht einmal so tun, als hätten sie Konzepte, sie gewinnen Stimmen, Sympathien und Mitglieder. Doch müssen Veränderungen der sozialen Systeme mit Radikalisierung und Parteienfrust einhergehen? - Die Antwort lautet klar nein. Überall in Europa, wo Konservative oder Sozialdemokraten vor der Aufgabe standen, den Sozialstaat wieder fit zu machen, hat man wertvolle Erfahrungen gesammelt, die Deutschland nach wie vor weitgehend ignoriert, bestenfalls häppchenweise nachkaut. Dabei ist ein Staat, in dem nach Expertenschätzungen bis zu 40 Prozent der Wahlberechtigten ihr Einkommen in Teilen oder ganz aus staatlichen Leistungen oder sozialen Umschichtungsprogrammen beziehen, dringend angewiesen auf eine Veränderung eben jener Sozialsysteme. Förderung der Eigeninitiative durch eine aufrichtigere Politik wäre die Grundvoraussetzung für das Gelingen jedweder Veränderung. Das machte auch Schwedens Regierungschef Göran Persson Bundeskanzler Schröder Anfang September auf einer Klausurtagung klar: Drei Jahre konsequenter Arbeit am Sozialen seien nötig, damit es wieder aufwärts gehe. Schwierig sei es gewesen, aber so sei Schweden wieder wettbewerbsfähig geworden und nur so, gab der Sozialdemokrat seinem deutschen Kollegen mit auf den Weg. Was er als Gast höflich verschwieg: Eben jener Weg wird in Deutschland zu lange und zögerlich beschritten und Schröder steht nicht am Anfang des Weges, denn er springt bereits seit 1998 mit eilig lancierten Ideen auf dem Pfad der Reformen mal vor und dann wieder zurück. Statt ein Gesamtkonzept vorzulegen, in das sich auch Fragen des Kündigungsschutzes, der Finanzierung des Gesundheitswesens oder der Sicherung der Renten eingliedern, legt Rot-Grün unzusammenhängende Gesetzesideen vor. So hat der Kanzler unter dem Eindruck seines schwedischen Besuchers eine sozial engagierte Bevölkerungspolitik zur Erhöhung der Geburtenzahlen angekündigt. Die Arbeits- und Sozialhilfereform Hartz IV ist noch nicht in trockenen Tüchern, da soll ein am Einkommen orientiertes Erziehungsgeld gezahlt werden, um die Geburtenzahlen zu steigern. An sich begrüßenswert, scheint auch dieser Vorstoß schlecht abgestimmt und schwer finanzierbar zu sein. Denn eins lehren die erfolgreichen Reformer Europas: Wer zu spät und zaghaft herumdoktert, den bestraft der Wähler. Dänen, Schweizer und Österreicher handelten vergleichsweise schnell und können sich nun beispielsweise auf die Vermittlung von Arbeit statt Verwaltung des Mangels konzentrieren. Die bittere Erkenntnis, daß Arbeitslosigkeit nicht vorrangig durch einen Aufschwung beendet wird, sondern durch das Aufgeben mancher Zumutbarkeitsgrenzen, scheint angesichts der konjunkturprophetischen Äußerungen eines Wolfgang Clement noch nicht zum Konsens der Bundesregierung gereift zu sein. Eine stärker föderale Regelung des Arbeitsmarktes und somit mehr regionalen Wettbewerb zeigt das sicher radikale Gegenbeispiel USA. In manchen Bundesstaaten nur ein halbes Jahr Arbeitslosenunterstützung mit durchschnittlich 58 Prozent des letzten Nettolohns zwingen die Menschen zur engagierten Jobsuche. Dafür subventioniert der Staat Billiglohnberufe, indem er aus Steuermitteln Zugaben zahlt, statt Steuern von diesen Arbeitnehmern zu fordern. Arbeit wird somit im Vergleich zur Maschine wieder lohnenswerter. In Großbritannien kennt man ein ähnliches System: Steuergutschriften. Wer auf der Insel einen angebotenen Job ausschlägt, verliert die öffentliche Hilfe - ein drastischeres Modell als Hartz IV. Nicht "Arbeitslose", sondern "Arbeitsuchende" werden betreut und statistisch erfaßt. Bei einem so großen Niedriglohnsektor erhält die Einführung eines Mindestlohns einen Sinn - eine auch in Deutschland diskutierte Neuerung, die im hiesigen regulierten Arbeitsmarkt aber anders als in Großbritannien noch Arbeitsplätze kosten würde. Von den Briten schaute sich Schröder immerhin auch das "jobcentre" ab, nur gerät es hierzulande nicht zum Durchlauferhitzer in die Arbeit, sondern legt mit dem alten Arbeitsamt-Apparat bestenfalls die Sozialhilfe mit dem Arbeitslosengeld zusammen. Die dänische "Jobbutik" vermittelt in durchschnittlich 14 statt 35 Wochen wie in Deutschland Menschen in die Arbeit. Das muß sie auch, denn Kündigungsschutz besteht praktisch nicht. Die Dänen "genießen" den wohl flexibelsten Arbeitsmarkt Europas. Jeder vierte ist einmal im Jahr ohne Arbeit, doch in dieser Zeit hat er eine luxuriöse Versorgung von 90 Prozent des letzten Bruttogehalts, maximal 1.800 Euro im Monat. In den alten Bundesländern Deutschlands sind es 345 Euro, Großbritannien gibt umgerechnet 358 Euro monatlich. Die Schweiz zahlt ähnlich großzügig wie Dänemark zwischen 70 und 80 Prozent des letzten Einkommens als Arbeitslosengeld. Was an Hartz IV die Betroffenen stört, ist in der Schweiz selbstverständlich: Nach Arbeitslosengeld folgt Sozialhilfe - nach eineinhalb Jahren Leistungsempfang werden noch 700 Euro monatlich ausgezahlt. Womöglich dem Minimum an Kündigungsschutz verdanken auch die über 50jährigen Eidgenossen gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote liegt bei unter vier Prozent. Die Niederlande füllen immerhin mit schwer vermittelbaren Arbeitslosen auf Mindestlohnbasis ihre öffentlichen Verwaltungen und Wohlfahrtseinrichtungen auf, die für einfache Tätigkeiten einfach bezahlte Arbeitnehmer erhalten. Der Leitsatz dort heißt: Alles tun, um Arbeit bei gleichen Kosten besser zu verteilen. Österreich mutet Arbeitsuchenden bereits nach 100 Tagen "ohne" einen Platz in einer fremden Branche zu und gibt gerade ein Jahr Arbeitslosengeld. Bei etwas über vier Prozent Arbeitslosenquote ist Widerstand dort ausgeblieben. Um so mehr ein Signal für den großen Nachbarn im Norden, daß es letztlich nicht auf Bezüge, sondern ein Sozialsystem ankommt, das Arbeit fördert, statt bürokratisch miterzeugten Mangel zu versorgen. Ein einfaches und klares Grundkonzept von Seiten der jeweiligen Regierungen aber individuelle Beratung der Betroffenen haben in anderen Staaten Erfolg gebracht. Statt die von Jahr zu Jahr steigende Arbeitslosigkeit auf grundlegende Fehler im System zurückzuführen, hat Deutschland statt dessen bis heute halbherzig nur an einzelnen Symptomen gearbeitet und dem Verteilungskonsens gehuldigt. Statt Umbau muß nun der Abbau erfolgen - ein schmerzvollerer Weg als in anderen europäischen Staaten. Ein Weg ist zu beschreiten, der aus dem Tal der leeren Kassen und verständlichen, aber teuren sozialen Sonderwegen wie der Pflegeversicherung und der Arbeitslosenhilfe herausführen muß. |