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Preußische Allgemeine Zeitung / 18. September 2004
Unter Chinas 1,3 Milliarden Einwohnern zählen zehn Prozent zu den nationalen "Minderheiten", die nicht zur Titularnation der Han-Chinesen gehören. Viele von ihnen haben eine Bevölkerungszahl und ein ursprünglich geschlossenes Siedlungsgebiet, das sie in Europa zu einer mittelgroßen Staatsnation werden ließe. Dazu zählen die Zhuang (16 Millionen), die Manchus (zehn Millionen), die islamisch-chinesischen Hui (neun Millionen), die Uiguren (acht Millionen), die Miao Südchinas (7,5 Millionen), die Yi (6,5 Millionen), die Tujia (5,7 Millionen), die Mongolen der Inneren Mongolei (fünf Millionen) und die Tibeter (4,6 Millionen). Allen ist gemeinsam, daß sie vom chinesischen Wirtschaftswunder links liegen gelassen werden. Sie leben in bitterer Armut und sind von vielen Berufen und von höherer Bildung, die die vertiefte Kenntnis der chinesichen Schriftsprache voraussetzen, weitgehend ausgeschlossen. Offiziell sind die Minderheiten toleriert, sofern sie in der KP-Diktatur mitschwimmen und die ihnen zugedachte Rolle im Han-Nationalismus als putzige Volkstanzgruppen, Touristenattraktion und ethnische Restaurantbetreiber brav weiterspielen. Grundsätzlich aber stehen die Minderheitennationen im han-chinesischen Nationalstaat vor der Alternative zwischen Anpassung, ethnischer Selbstaufgabe einerseits oder opfervollem Widerstand und Selbstbehauptung andererseits. Die Manchus und die in den Städten lebenden Inneren Mongolen haben den Weg der Selbstaufgabe gewählt, denn nur die volle Teilhabe am chinesischen Bildungssystem bietet ihnen und ihren Kindern Beschäftigungschancen und ein Entkommen aus Armut und Diskriminierung. Die buddhistischen Tibeter und die islamischen Uiguren, die eine eigenstaatliche Tradition, jahrhundertealte Nationalkulturen und einst geschlossene Siedlungsgebiete weit im Westen des eigentlichen Chinas besitzen, dagegen leisten Widerstand gegen den großchinesischen Kolonialismus. Für ihren unbeugsamen Mut bezahlen sie einen hohen Preis. Das 1913 formell unabhängig gewordene Gotteskönigreich Tibet wurde 1949/51 von der kommunistischen "Volksbefreiungsarmee" erobert. Ein Aufstand wurde 1959 mit über 100.000 Toten niedergeschlagen. 200.000 flüchteten mit dem Dalai Lama ins nordindische Exil. Schon in den 50er Jahren wurden in den tibetisch besiedelten Gebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Ganxi und Sichuan, wo die Hälfte der 4,6 Millionen Tibeter wohnen, Äbte und Großgrundbesitzer enteignet und erschossen. Im Kerngebiet des "autonomen" Tibet begann der rote Terror mit Macht erst nach 1959. Auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution (1966-72) wurden alle Klöster, die nicht nur religiöser Lebensmittelpunkt, sondern auch die einzigen Kultur- und Bildungszentren waren, zerstört. Ihre Bibliotheken und Kunstwerke wurden verwüstet und verbrannt. Auch nach der späteren Wiedereröffnung mancher Klöster und ihrer teilweisen Renovierung bleibt die Zahl ihrer Insassen streng begrenzt. Im Kampf gegen die "Dalai -Lama-Clique" müssen in allen Klöstern seit den 90er Jahren "Demokratische Leitungsausschüsse" eingerichtet werden, die die Regierungsanweisungen umzusetzen und Höchstzahlen für Mönche und Nonnen zu kontrollieren haben. Die Strafen für "separatistische Aktivitäten" und die Verehrung des Dalai Lama sind drakonisch. Bis zu 1.000 politische Gefangene sind in Tibet in Haft. Das Entfalten der tibetischen Nationalflagge und das Verteilen von Flugblättern zu Menschenrechtsverletzungen wurde mit sechs bis 19 Jahren Gefängnis geahndet. Doch versucht der atheistische Staat, die Auswahl der reinkarnierten jungen Lamas massiv zu manipulieren. Als 1995 die Wahl des in der tibetischen Hierarchie zweitgereiten Panchen Lama durch die buddhistischen Äbte und die Gesandten des Dalai Lama Peking mißfiel, verhafteten die Machthaber den sechsjährigen Jungen. Als jüngster politischer Häftling soll er an einem unbekannten Ort zu einem "chinesischen Patrioten" umerzogen werden. Um auf Nummer Sicher zu gehen, ernannten die Kommunisten mittlerweile einen neuen "Panchen Lama". Am schrecklichsten ist in Tibet die Praxis der erzwungenen Abtreibungen, die seit 1984 mit wenigen Abstrichen auch den Minderheiten, die zum Übervölkerungsproblem der Han-Chinesen in ihren entlegenen Gebieten kaum beitragen, aufgezwungen wird. Spätestens nach dem zweiten Kind erfolgen Zwangsabtreibungen, Säuglingstötungen im Geburtsvorgang und Zwangssterilisierungen. Bürgermeistern, Partei- sekretären, Gesundheitsämtern und Kliniken werden maximale Geburtenzahlen als Quote vorgegeben, deren Überschreiten auch für sie zu Strafen führt. Entsprechend gnadenlos ist die heroische Jagd nach den Ungeborenen und ihren Müttern. Nur in den kaum besiedelten Weidegebieten des Hoch- und Grenzlandes können heimgebährende Schwangere ihren Kindsmördern entkommen. In den frühen 90er Jahren bewährte sich ein gewisser Hu Jintao als Parteisekretär in Lhasa bei der politischen Disziplinierung der starrsinnigen Tibeter. Heute ist er Präsident der Volksrepublik. Für die ruhelosen Westprovinzen erließ Hu 1999 ein weitreichendes Entwicklungsprogramm. Es soll durch öffentlich finanzierte Infrastruktur- und Industrieansiedlungsprogramme die wachsenden Disparitäten zwischen der boomenden Ostküste Chinas und dem zurückbleibenden Westen ausgleichen. Es soll die Öl-, Erdgas- und anderen Rohstoffquellen des unzugänglichen wilden Westens erschließen, die dortigen Eingeborenen befrieden und schließlich China auf einen Waffengang mit Taiwan, der die Ostküste verheeren dürfte, besser vorbereiten. Dazu werden nach Tibet seit geraumer Zeit massiv Bau- und Industriearbeiter, Techniker und Ingenieure aus den Ostprovinzen importiert. Den Tibetern bleiben nur Hilfsarbeiterdienste. Am ehrgeizigsten ist das Eisenbahnprojekt von Golang nach Lhasa, das Tibet ab 2007 an das Bahnnetz der Welt anschließen soll. Bislang gibt es nur geschotterte Hochlandpisten. Doch die Tibeter fürchten in der Folge einen weiteren massiven Schub in der Zuwanderung. Schon jetzt wurden sie durch Zugewanderte in den Städten Lhasa und Shigatse zur Minderheit im eigenen Land. Handel, Industrie, Verwaltung und Schulen werden von Chinesen kontrolliert. Der Unterricht auf Tibetisch hört nach dem zweiten Schuljahr auf. Je schneller die rückständigen, dem sozialistischen Staatskapitalismus abholden Tibeter sinisiert sind, desto besser für sie und für Chinas Sicherheit, so die kaum länger verbrämte Entwicklungsdoktrin Pekings.
In seinem Exil im indischen Himalayavorland gibt sich der 69jährige Dalai Lama
versöhnlich. Seit 1988 verlangt er nur noch die Autonomie Tibets statt der
Unabhängigkeit und setzt im Lichte der buddhistischen Lehre auf strikte
Gewaltfreiheit. Er hofft, China gesprächsbereit zu machen und ein von allen
Gläubigen ersehntes Rückkehrrecht nach Tibet zu erreichen. Peking jedoch
denunziert ihn weiter als landesverräterischen Spalter, erhöht die Repression,
verweigert jeden Dialog und versucht, Chinas wachsende Macht zur diplomatischen
Isolation des Dalai Lama einzusetzen. Auch in Europa und in Indien wird der
Aktionsradius des Friedensnobelpreisträgers zunehmend eingeengt. Nicht alle
Tibeter sind mit dem unerwiderten Friedenskurs ihres geistigen Oberhaupts
einverstanden. Der 13.000 Mitglieder starke Tibetische Jugendkongreß (TYC)
bildet seine Kader schon seit Jahren militärisch aus und führt
Aufklärungsaufträge für den indischen Geheimdienst in Tibet aus. Dort unterhält
er im Untergrund bewaffnete Zellen und ist nach eigenen Verlautbarungen zum
richtigen Zeitpunkt - nach dem Ableben des Dalai Lama? - zum Losschlagen bereit.
Xinjiang macht heute ein Sechstel des chinesischen Territoriums aus. Seine
strategische und wirtschaftliche Bedeutung ist angesichts seiner reichen kaum
erschlossenen Vorkommen an Öl, Erdgas, Kupfer, Gold und Kohle unvergleichlich
wichtiger als die des unwirtlichen tibetischen Hochlandes. Ursprünglich wurde
die chinesische Besiedlung Xinjiangs in den 50er Jahren durch Ketten von
Arbeitslagern (laogai) vorangetrieben, in denen Millionen von politisch und
sozial mißliebigen Zwangsarbeitern Staatsgüter, Bergwerke und den Kanal-,
Straßen- und Eisenbahnbau betreiben mußten. Wie in Stalins GUlag wurden die
meisten zu Tode gearbeitet. So führen jetzt Eisenbahn- und Autobahnstrecken
entlang der Taklamakan-Wüste bis nach Kaschgar an der entlegenen Westgrenze zu
Tadschikistan. Militärtransporte können so beschleunigt bewegt werden. Als
größtes Projekt des "Großen Westentwicklungsplans" wird seit 1999 eine 4.000
Kilometer lange Gasfernleitung vom Fördergebiet im Tarim-Becken bis nach
Schanghai an der Ostküste gebaut. Wie bei allen Großprojekten des
Westentwicklungsplans ist ihre Rentabilität unklar.
Der antikoloniale Widerstand der sonst friedlichen und toleranten Uiguren, eines
Turkvolkes, das aufgrund der Wechselfälle als historisches Durchgangsland
genetisch zur Hälfte indo-europäischen Ursprungs ist, erhielt durch die
Unabhängigkeit der benachbarten Brudervölker der Kasachen, Kirgisen und
Turkmenen 1991 neuen Auftrieb. Die Führung in Peking reagierte mit einer
Verschärfung der Geburtenkontrollen, mit Repression und vermehrten
Siedlungsprogrammen. Die Feindschaft der atheistischen KP gegenüber dem Islam,
den sie für eine besonders rück-schrittliche Variante des Aberglaubens hält,
tritt offen zu Tage. Jugendlichen unter 18 ist jegliche Religionsausübung
untersagt. Schüler, Studenten und Staatsbedienstete dürfen sich weder an die
islamischen Fasten- und Gebetsregeln halten noch Moscheen besuchen. Der
Gottesdienst der Moscheen wird unter allen möglichen Vorwänden eingeschränkt,
ebenso wie Gebetsrufe des Muezzin. Häufig werden sie bei Der nationale Widerstand der Uiguren wurde von Anfang an kriminalisiert und soll mit Brachialgewalt gebrochen werden. Unruhen beginnen meist spontan als Ausbruch des Volkszorns nach brutalen Übergriffen der "Volkspolizei" bei den allnächtlichen Razzien. Dann versucht eine Menschenmenge die Polizeireviere zu stürmen und Gefangene zu befreien. Dabei werden häufig auch chinesische Geschäfte und Parteilokale angezündet. Einige Stunden später kommt der Gegenschlag mit massivem Militäreinsatz gegen die Zivilbevölkerung. Hunderte von Toten auf Seiten der Aufständischen und tausende von Verhaftungen sind die Folge. Sie erwartet ausnahmslos Folter, jahrelange Lagerhaft, es gibt Dutzende öffentlicher Hinrichtungen oder angebliche Rädelsführer verschwinden einfach spurlos. Gelegentlich explodieren auch mysteriöse Sprengstoffpakete in Bussen der Städte. Vor dem 11. September wurde dies Kriminellen zur Last gelegt. Danach sind es ausnahmslos "islamistische Terroristen", denen Schauprozesse, öffentliche Geständnisse und die Hinrichtung der üblichen Verdächtigen folgen. Fast täglich werden in Xinjiang ein bis drei Hinrichtungen bekanntgegeben. Meist sind die Delikte politisch. Nur sehr selten werden kriminelle Chinesen zum Tode verurteilt. Angehörige von Polizei und Militär werden stets begnadigt. Der Präsident der Ostturkmenistan- Stiftung in Ankara, Mehmet Riza Bekim, ein pensionierter türkischer General uigurischer Herkunft, meint: "China weiß genau, was die Welt haßt. Sie versuchen die Uiguren als Kämpfer für den Islam darzustellen. Doch die Uiguren wollen einen demokratischen laizistischen Staat." Die chinesische Taktik scheint aufzugehen. Im September 2002 wurden die Ostturkestanische Islamische Bewegung (Etim) und die Ostturkestan Partei auf chinesischen Druck von der Uno zur terroristischen Vereinigungen deklariert. Ohne die Spur eines Beweises plapperte Richard Armitage, US-Vizeaußenminister, die chinesiche Propagandalinie nach, die Bewegung habe sich terroristischer Gewaltakte schuldig gemacht und kündigte die Beschlagnahme ihrer Guthaben an. Die chinesische Neutralität im US-Krieg gegen den Irak war offenkundig wichtiger. Bis zu 300 junge Uiguren sollen in Al-Qaida-Lagern ausgebildet worden sein. Eine Handvoll wurden in Afghanistan, Tschetschenien und Pakistan gefangengenommen und nach der Auslieferung an China sofort erschossen. Das uigurische Exil leidet unter dem Fehlen eines unbestrittenen charismatischen Führers. Statt dessen bemüht sich die chinesische Staatssicherheit um Infiltration und Liquidierung der Exilanten, zumal Peking von der Angst um ein pantürkisches Erwachen der Turkvölker beherrscht wird. Sie bilden laut Turgut Özal, des einstigen türkischen Premiers, eine türkische Sphäre von der Adria bis zur chinesischen Mauer. Özal versprach den Uiguren die Solidarität der Türkei bei der Befreiung ihrer Heimat. Entsprechend stark ist der wirtschaftliche und politische Druck Chinas und der Einsatz von Schmiergeldern, um die Unterdrück-ung uigurischer Organisationen und die Auslieferung von Flüchtlingen aus Rußland und den zentralasiatischen Nachbarstaaten - allein in Kasachstan leben 250.000 Uiguren im Exil - zu erreichen. Ihnen droht nach der Auslieferung Verhaftung, Folter, Lagerhaft oder der Tod. Heute sind die Zentren des uigurischen Widerstands in sicherer Entfernung in Ankara, Istanbul und München. Doch wie in Tibet ist angesichts ständiger Blutopfer und des Überfremdungsdrucks die Geduld vieler Uiguren am Ende. Ein chinesischer Angriff auf Taiwan gilt als Signal zum Losschlagen. Obwohl ein Aufstand die Rohstoffversorgung Ostchinas empfindlich treffen würde, erscheinen die Machtverhältnisse jedoch als zu eindeutig, um Aussicht auf Erfolg zu haben. Realistischer ist ein anderes Szenario: das wahrscheinlich in Bälde bevorstehende Versiegen der Wasserversorgung für die rücksichtslos ausgedehnten Städte in den Oasen des Wüstenlandes, das der Zuwanderung der Chinesen ein jähes Ende bereiten dürfte. Als Erkin Alpekin kürzlich die USA besuchte, wurde er von der chinesischen Botschaft, wie zu erwarten, als Terrorist denunziert. In Wahrheit aber sprach er sich vor Kongreßabgeordneten für den Erhalt der Sprache, Kultur und völkischen Identität der Uiguren aus, um die nächsten 50 Jahre zu überleben. Kindheit hinter Gittern: Uigurische Waisenkinder haben im kommunistischen China keine guten Aussichten - wie ihr Volk. Pa |