Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
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Preußische Allgemeine Zeitung / 18. September 2004
Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Vertreibung kennen die Jüngeren nur aus Erzählungen von älteren Verwandten, aus Büchern und Filmen. Mittlerweile ist in Deutschland bereits die zweite Generation im Frieden geboren und wächst im Frieden auf. Wie weit weg erscheint ihnen diese Zeit, die vielen Älteren doch so lebhaft vor Augen steht, als wäre es gestern gewesen, sobald nur ein Wort, ein Bild die Erinnerung wachruft.
Es waren schwere Jahre. Das wissen gerade diejenigen ganz genau, die
Bombennächte durchwacht haben, die um Angehörige gebangt oder angstvoll dem
Grollen der näher kommenden Front gelauscht haben. Das wissen diejenigen noch
ein wenig besser, die vor den heranrückenden Soldaten geflohen oder einige
Monate später vertrieben worden sind mit nicht mehr als einem Notgepäck. Auch
die ersten Jahre nach dem Krieg waren entbehrungsreich. Hunger und Trümmer,
diese Erfahrungen teilten nach dem Krieg die meisten Deutschen. Doch der Verlust
der Heimat ist ein Schicksal, das allein die Millionen Menschen aus den
damaligen Ostgebieten schultern mußten. Herausgerissen zu sein aus einer
Gemeinschaft, auf sich allein gestellt zu sein unter Menschen, die ihrerseits
seit vielen Jahren eine Gemeinschaft bilden, das war das schwere Los der
Flüchtlinge und Vertriebenen. Der Zusammenschluß zu Stadt- oder
Kreisgemeinschaften gab vielen von ihnen einen Halt in dieser stürmischen Zeit.
Mit Patenschaften zwischen Kommunen und Gemeinschaften von Vertriebenen sollte
ein ähnliches Ziel erreicht werden: Die Patenschaften sollten ein neues Band
knüpfen zwischen Alteingesessenen und neu Hinzugezogenen und somit das herzliche
Miteinander festigen. In Gelsenkirchen hat die Integration neu hinzugezogener Bürger eine gute Tradition. Gerade Allensteinerinnen und Allensteiner gehörten zu denen, die den Aufschwung des Gelsenkirchener Bergbaus und der Schwerindustrie Ende des 19. Jahrhunderts erst möglich gemacht hatten. Sie alle hatten hier, 1.100 Kilometer von ihrer Heimatstadt entfernt, ein neues Zuhause gefunden. Ein solches Zuhause wollte die Stadt Gelsenkirchen nun gerade jenen bieten, die von den Folgen des Krieges doppelt gebeutelt waren. Im Jahr 1953 übernahm sie offiziell die Patenschaft über die Stadtgemeinschaft Allenstein, ein Jahr später wurde die Patenschaft mit einem feierlichen Akt in Gelsenkirchen besiegelt. In den Jahren nach dem Krieg mußte vieles neu aufgebaut werden. Wenngleich Arbeit reichlich vorhanden war, so fehlte es doch vielfach am Notwendigsten. Das prägte die Aufgaben sowohl der Stadt als auch der Stadtgemeinschaft Allenstein. Wohnung, Nahrung, Kohle, daran fehlte es noch in vielen Haushalten. Die früheren Allensteiner trieben weitere Sorgen um. Die Stadtgemeinschaft leistete ihnen Hilfe in der Not. Die Rechnungslegung dieser Jahre legt davon ein beredtes Zeugnis ab: Bedürftige erhielten Weihnachtspäckchen, und die Geschäftsstelle wurde überschüttet mit Anfragen nach dem Verbleib von Verwandten und Freunden, die schnellstmöglich beantwortet wurden. Als Patenstadt wurde Gelsenkirchen zum Ort des alljährlichen Wiedersehens. Es erfüllt mich mit Freude und Stolz, daß die Allensteiner schon beim zehnjährigen Patenschaftsjubiläum ausriefen: "Hier in Gelsenkirchen sei unser Allenstein!" Gelsenkirchen nimmt seine Gastgeberrolle nunmehr seit Jahrzehnten wahr, und es freut sich immer wieder darauf, die ehemaligen Allensteiner zu empfangen und ihnen einen angenehmen Rahmen für ein fröhliches Wiedersehen zu schaffen. Im Rückblick fragt man sich, wie es wohl möglich war, die auf über 20.000 Adressen anwachsende Adresskartei zusammenzutragen. Moderne Hilfsmittel wie Computer und Internet hätten die Aufgabe ungemein erleichtert, doch daran war seinerzeit nicht zu denken. Telefonate und Reisen waren kostspielig. Es ist wohl nur dem außergewöhnlichen Zusammenhalt der Allensteiner zu verdanken, daß die Adressen von vielen Seiten akribisch zusammengetragen wurden.
In dem Maße, wie die Aufgaben wuchsen, wuchs auch der Bedarf an Finanzmitteln.
Gern hat die Stadt Gelsenkirchen die nötigen Mittel bereitgestellt, um die
Arbeit der Stadtgemeinschaft zu unterstützen. Die Großzügigkeit, die sich die
Stadt damals glücklicherweise leisten konnte, wäre heute angesichts der
anhaltend schlechten Haushaltslage nicht mehr möglich. Doch in den 50er und 60er
Jahren konnte Gelsenkirchen die Stadtgemeinschaft Allenstein freigiebig
unterstützen.
Darin spiegelt sich das Gelsenkirchener Verständnis von Patenschaft wieder. Die
Zurückhaltung ist keineswegs mit mangelndem Interesse zu verwechseln, sondern
sie fußt auf dem Respekt vor ihrem Allensteiner Patenkind. Nun ist üblicherweise
der Pate erwachsen und das Patenkind, wie der Name schon sagt, noch jung und
unerfahren. In einem solchen Fall wird der eine führen und der andere folgen.
Doch dieser Fall lag anders, kamen doch die Frauen und Männer aus Allenstein als
gute ausgebildete Persönlichkeiten nach Gelsenkirchen, denen es nicht an Führung
mangelte, sondern an freundschaftlicher Unterstützung und einer helfenden Hand.
Die damit verbundene Definition der Rolle des Paten hat die Stadt Gelsenkirchen
gern akzeptiert. Zur Zeit des Falls des Ostblocks hatte Gelsenkirchen die Patenschaft mit den ehemaligen Allensteinern bereits erweitert um eine Partnerschaft mit der Stadt Allenstein. Im vergangenen Jahr hat Allenstein gemeinsam mit seinen ehemaligen Bewohnern und den Partnern aus Gelsenkirchen seinen 650. Geburtstag gefeiert. Das war ein Zeichen dafür, daß die Versöhnung in Europa gelungen ist - wenngleich die früheren Allensteiner weiterhin die Sehnsucht nach der Heimatstadt im Herzen tragen werden. Ein Zeugnis der Verbundenheit und des Respekts vor einander: Bronzetafel im Musiktheater Gelsenkirchen Foto: privat |