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18.09.04 / Der Wochenrückblick mit Hans Heckel

© Preußische Allgemeine Zeitung / 18. September 2004


Sehr unsensibel / Eignet sich ein Köhler zum Politiker?
Der Wochenrückblick mit Hans Heckel

Volk und Politik stehen sich viel näher, als beide zugeben, es ist eine Verschwörung. Verschworene sprechen in Geheimsprache miteinander. Draußen giften wir ins Mikro der Straßenumfrager: "Politiker lügen sowieso. Keiner sagt die Wahrheit!" Doch tatsächlich meinen wir damit natürlich: "Sie sollen lügen! Wofür sonst bezahlen wir sie?" Unsere Mitverschworenen, die Politiker, haben das bislang immer richtig verstanden und ihre Pflicht erfüllt: "Lügen? Aber gern: Die Rente ist sicher. Die Arbeitslosenzahl wird binnen vier Jahren halbiert. Am sozialen Besitzstand wird nicht gerüttelt - mehr?" "Danke, reicht." Alle waren zufrieden. Bis Köhler kam. Der wurde ja ohnehin bloß durch einen dummen Zufall Bundespräsident, in weinseliger Runde mit Merkel und Stoiber in Westerwelles Berliner Apartment ausgemauschelt. In die Geheimsprache, in der Politiker und Volk sich verständigen, hat ihn offenbar keiner eingeweiht. Jetzt haben wir den Salat.

Die meisten ahnen noch gar nicht, was der Ahnungslose mit seinem wahrheitstriefenden Geschwätz über unterschiedliche Lebensverhältnisse in unterschiedlichen Regionen möglicherweise losgetreten hat. Bislang geht es nur um Deutschland. Was aber soll denn werden, wenn demnächst jemand die gleiche unerhörte Entdeckung mit Blick auf Europa öffentlich macht? Gut, gut, ist recht unwahrscheinlich, denn in Brüssel sitzen gestandene Politiker, die ihren Beruf (und oft nichts anderes) von der Pike auf gelernt haben und daher wissen, wie mit Wahrheit umzugehen ist. Aber nur mal angenommen, auch da tanzt einer aus der wohlgeordneten Reihe und nimmt die Transfers von den EU-Geberländern in die EU-Nehmerländer aufs Korn und stoppt am Ende den Subventionsstrom: Kaum auszumalen, was beispielsweise auf das arme reiche Irland zukäme, wenn die Überweisungen aus Deutschland ausfielen.

Sollen die Iren etwa mit kaputten Straßen und maroden Schulen leben wie die Behauser von Hamburg oder Köln? Es soll in entlegenen Winkeln der grünen Insel gar Gegenden geben, da würden die Menschen ohne EU-Entwicklungshilfe beinahe vegetieren müssen wie die Eingeborenen längst vergessener Orte namens Leipzig oder Dresden! Irlands Arbeitslosigkeit könnte die Fünf-Prozent-Marke über-, das jährliche Wirtschaftswachstum dieselbe Linie unterschreiten, warnen EU-Kenner. Auch würde uns der "keltische Tigerstaat" kaum so effektiv mit niedrigsten Steuern deutsche Firmen abwerben, wenn die Kohle aus Germanien plötzlich ausbliebe. Das ist mit unserem Verständnis von europäischer Solidarität nicht zu vereinbaren. Und mit der Menschenwürde der Iren schon gar nicht. Hat Köhler soweit gedacht?
Aber wie gesagt: Nicht bange werden: In Brüssel sitzen Fachleute, die dafür sorgen werden, daß der Spuk auf Deutschland beschränkt bleibt. Sie kommen aus allen 25 Ländern, die EU-Abgeordneten, und sie vertreten die Interessen ihrer Völker nach bestem Wissen und Gewissen: Die französischen Parlamentarier die Interessen der Franzosen, die polnischen die der Polen, die deutschen die der Europäer und so weiter. Das man sich das nicht zu einfach vorstellt. Ein hartes Brot ist das. Da heißt es: Alle an einem Strang ziehen. Dieser Tage kämpfen die EU-Volksvertreter gemeinsam gegen das freche Ansinnen Deutschlands, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erlangen, was Berlin unter anderem damit rechtfertigen will, daß es höhere Uno-Beiträge zahlt als vier der fünf derzeitigen "Ständigen" (USA, Rußland, China, Großbritannien und Frankreich) und mehr Truppen für die Uno stellt als jeder andere Staat der Welt.

Um diese unverschämte Vorrechnerei abzuwehren, haben sich die Europaabgeordneten Armin Laschet (CDU), Jo Leinen (SPD) und Silvana Koch-Mehrin (FDP) zusammengeschlossen. Laschet entlarvt, daß Berlin "Brechstangen"-Politik betreibt. Etwas grobschlächtig, fanden die Kollegen Leinen und Koch-Mehrin und dachten sich eine feinere Finte aus, in der sich die aufmüpfigen Deutschen verheddern sollen: Man müsse statt für einen deutschen "mit aller Macht für einen europäischen Sitz streiten", jubelt Leinen den Berlinern unter. Die FDP-Frau sagt das Gleiche. Was beide nicht sagen: Ein EU-Sitz im Sicherheitsrat würde bedeuten, daß London und Paris ihre Plätze räumen müßten. Das würden die natürlich nie machen, wie auch Leinen und Koch-Mehrin wissen. Die Deutschen wären aber wenigstens beschäftigt. Hat nicht schon Napoleon, der große Europäer, erkannt, daß man den braven Michel am besten dadurch mattsetzt, daß man ihm irgendeine schwachsinnige, aber hochtrabend klingende Aufgabe stellt, an der er sich bereitwillig aufreibt? So wird es funktionieren: Die Deutschen sitzen (und blechen) bei der Uno zwar weiterhin am Katzentisch des "Feindstaates". Doch wenn sie den Angelhaken von Leinen/Laschet/Koch-Mehrin erst geschluckt haben und für den unerreichbaren EU-Sitz zu zappeln beginnen, dann hocken sie dort wenigstens in dem stolzen Gefühl, (als einzige) "das nationalstaatliche Denken überwunden zu haben", während die Nationalstaaten am Haupttisch darüber entscheiden, in welche Mausefalle sie die deutschen Blauhelme als nächstes schicken.

Europäische Union und Uno tun gut daran, die Vorliebe der Deutschen für wohlklingende Phrasen und ihre heftige Abneigung gegen stachelige Wahrheiten ernstzunehmen. Die OECD, auch so eine Weltorganisation, hat sich da nämlich soeben böse vertan. Die deutsche Bildungspolitik falle trotz der eingeleiteten Reformen weiter zurück, heißt es in ihrem neuesten Bericht. Das war sehr unsensibel. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Dohris Ahnen (SPD) wies den taktlosen Report energisch zurück. In keinem Land, belehrte sie via Bayrischer Rundfunk, sei nach den miserablen Ergebnissen der PISA-Studie "so intensiv über die Bildung diskutiert worden" wie bei uns. Wissen denn diese OECD-Typen nicht, daß es in der modernen Pädagogik vorrangig ist, "mal drüber gequatscht zu haben" und daß sich erst alle "in die Gruppendiskussion eingebracht" haben müssen, bevor man da irgendetwas übers Knie bricht?

Hätten Köhler und die OECD ihre Geschichten wenigstens netter verpackt, wären wir ja nicht halb so beleidigt. Kommunikation ist eben alles, das weiß selbst der rot-rote Senat von Berlin und wies seine Polizei nun an, diskriminierende Begriffe wie "Gefahrenort" oder "Problemkiez" für die Ghettos der Metropole künftig zu vermeiden. Statt dessen heißt es ab sofort "besonders kriminalitätsbelasteter Ort". Belastet, der arme Ort, die armen - "Kriminellen"? Darf man Menschen so etikettieren? Na! Wie wäre statt dessen: "Mitbürger/innen mit alternativer Rechtsauffassung"?

Raumpflege in der Fettecke Zeichnung: Götz Wiedenroth


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