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09.10.04 / Ungeweinte Tränen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 09. Oktober 2004


Ungeweinte Tränen
von Otto Höchst

Als Vater starb, war sie gerade 31 Jahre alt. Eine junge Frau, die ein glückliches Familienleben an der Seite eines starken Mannes führte und voller Zuversicht in die Zukunft schaute, war plötzlich mit drei Kindern allein.

Mit unseren drei, zehn und zwölf Jahren waren wir keine Hilfe, um das weiterführen zu können, was die Eltern aufgebaut hatten. 1937 hatten sie in Alt-Kattenau, einem kleinen Vorwerk des namhaften Gestüts Groß Trakehnen, eine Deputatstelle bekommen. Als sie aus dem Gröbsten waren - der zum Deputat gehörende Acker brachte gute Erträge, in den Ställen stand gesundes Vieh und die notwendigen Gerätschaften für die Bewirtschaftung waren angeschafft - kam der Krieg. Vater war von Anfang an dabei.

In den ersten Septembertagen 1942 kam dann ein Brief mit unbekannter Handschrift von der Ostfront und brachte die bittere Nachricht: Vater war tot. Er war auf dem Hauptverbandsplatz "Marinow" trotz aller ärztlichen Bemühungen einem Bauchdurchschuß erlegen. Der leitende Arzt endete sein Kondolenzschreiben mit den "trostreichen" Worten: "Ihr Gatte gab sein Leben für Führer, Volk und Vaterland."

Für Mutter, eine kleine bescheidene Frau, die Entscheidungen gern ihrem Mann überließ, bedeutete Vaters Tod nicht nur das Ende einer großen Liebe und harmonischen Familienglücks. Es war auch das Ende einer mühevoll aufgebauten Existenz. Sie brach in sich zusammen, ertrug schweigend ihr großes Leid.

Kutschiert von einem älteren Mann, fuhr eines Tages eine in tiefem Schwarz gekleidete Frau in einem Zweispänner bei uns vor. Ihr graumeliertes Haar war streng gescheitelt und mit einer schwarz umschleierten Kappe bedeckt. Sachlich drückte sie Mutter ihr Beileid aus. "Wir deutschen Frauen", sagte sie, "fühlen doch alle gleich. Ich trauere um meinen Ältesten. Die Kranzweihe meines Sohnes in der Kirche zu Kattenau wird vermutlich am nächsten Sonntag mit der Ihres Mannes zusammenfallen. Gemeinsam werden wir unserer gefallenen Helden gedenken. Sicher geben Sie auch eine Traueranzeige im ,Ostdeutschen Grenzboten' auf. Mühevoll nickte Mutter. "Und da sind wir doch sicher einer Meinung, daß wir ,In stolzer Trauer' zeichnen werden."

Das war zu viel, das hätte sie nicht sagen dürfen. Mutter erhob sich von ihrem Stuhl. "Stolz, sagen Sie. Ich soll stolz sein auf den Tod meines Mannes, der an einem Bauchdurchschuß starb, der ganz sicher große Schmerzen erdulden mußte. Ich bin nicht stolz, ich bin nicht stolz. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und wünsche einen guten Tag." Als müsse sie ihren Kopf stützen, hatte sie beide Hände vor das Gesicht gelegt und ging in unser Schlafzimmer.

Auch der Bürgermeister und der Inspektor machten ihre Aufwartung. Mutter fragte gleich zu Beginn des Gespräches: "Wie lange werden Sie uns in dieser Wohnung lassen? Es ist eine Dienstwohnung, die zum Deputat gehört. Wird sich für uns was anderes finden? Ich möchte nicht weg von unserem Dorf. Fünf Jahre wohnen wir nun hier, und bevor wir die Deputatstelle bekamen, hat mein Mann Jahr für Jahr hier als Freiarbeiter geschuftet. Die Kinder gehen hier in die Schule. In der Erntezeit will ich ja wie bisher mithelfen."

"Sie sollten erst einmal zur Ruhe kommen", unterbrach sie der Inspektor. "Ihr Mann war ein guter Spezialist, und einen, der die Bulldogge und den Raupenschlepper fahren und warten kann, finden wir so leicht nicht, zumindest nicht in diesen Kriegszeiten. Ein anderer kommt nicht in Frage, und solange bleibt alles beim alten."

Neben der Kriegerwitwen- und Waisenrente bot uns Vaters geopfertes Leben einen gewissen Schutz. Bis wir unsere Heimat im Oktober 1944 verlassen mußten, wohnten wir weiterhin in der Dienstwohnung und durften alles zum Deputat Gehörende nutzen. In den ersten Oktobertagen bekam Mutter den Bescheid, daß sie mit ihren Kindern für eine Evakuierung vorgesehen sei Der Transport, der sie ins Innere des Deutschen Reiches bringen würde, ginge am 5. Oktober 1944 vom Trakehner Bahnhof ab. Nach Verhandlungen mit dem Bürgermeister erreichte sie, daß ihre Eltern ebenfalls in diesen Transport eingegliedert wurden. "Was wird mit Otto, meinem Großen?" fragte sie. "Der lernt in Ebenrode. Wir wollen alle zusammenbleiben." - "Da kann ich nichts machen", hatte Bürgermeister Diekmann gesagt. "Machen Sie das dort klar."

Mutter kam mit dem Fahrrad ins Wirtschaftsamt, der ersten Station meiner Lehre. "Wir müssen flüchten", sagte sie. "Am 5. Oktober geht der Transport. Oma und Opa kommen mit. Pack deine Sachen. Ich laß dich hier nicht alleine zurück." - "Ich bleibe hier", war meine Antwort, "was wohl die anderen von mir denken, wenn ich jetzt, wo es ernst wird, die Flucht ergreife."

Mutter meldete sich bei der zuständigen Leiterin und trug ihr Anliegen vor. Fräulein Mischkat, eine kleine, resolute Person, machte es ganz kurz: "Natürlich haben Sie das Recht, Ihren 14jährigen Jungen mit auf den Transport zu nehmen. Aber soweit ich weiß, wohnt er doch sowieso nicht bei Ihnen zu Hause, sondern in Stadtfelde bei seiner Tante. Er ist also voll versorgt. Wissen Sie, gute Frau, das, was da jetzt mit den Evakuierungen passiert, sind doch reine Schutzmaßnahmen für Mütter mit kleinen Kindern. Wir können doch wohl ganz sicher sein, daß kein Feind jemals in unser Ostpreußen hineingelassen wird. Ich müßte mich auch erst noch beraten, was dann aus seiner Lehre wird. Denken Sie an seine Ausbildung. Die Schule, da ist im Moment nichts los, aber wenn die Front zurückgeht und die Soldaten abziehen, wird der Unterricht sofort wieder aufgenommen. Soweit ich weiß, gibt es diese Ausbildung nicht überall. Wo wollen Sie ihn unterbringen?"

Mutter wurde unsicher. Ich blieb in Ebenrode. Meine Familie fuhr mit einem Zug ins Unbekannte. Für alle Fälle wurde ich mit einem Geldbetrag ausgerüstet und mit Adressen unserer Verwandten im Rheinland, bei denen wir uns im Notfall treffen wollten. "Wenn ihr auch raus müßt, nimm warme Sachen mit. Die weinrote Wolldecke, die wärmt gut." Ihre Stimme begann zu zittern. "Nun auch der Sohn", brach es aus ihr heraus. Sie ging zum Ausgang, kam zurück, drückte mich ganz fest an sich. "Gott schütze dich." Ihr traurig verzweifelter Blick ging tief in mein Inneres. Damals, mit 14 Jahren, war das aber schnell vergessen. Die Gegenwart des Krieges hatte mich wieder. Sie ging, ohne noch einmal zurück-zuschauen. Ihr Gang war schleppend, als hätte sie Zentnerlasten zu tragen.

Ein Telegramm brachte die Nachricht: "Sind in Muldenberg im Vogtland. Alle sind gesund." Etwa drei Wochen später saß auch ich auf einer Strohschütte in einem Güterzug, der ins Unbekannte fuhr. Das Landratsamt Ebenrode wurde ebenfalls evakuiert. Mutters weinrote Wolldecke war mein Schutzschild. Mein Ziel war klar: Muldenberg im Vogtland, Mutter, meine Familie. Als sie mich in ihre Arme schloß, sagte sie: "Nie mehr laß ich ein Kind allein."

Wir waren notdürftig untergebracht. Zusammen mit anderen Flüchtlingsfamilien lebten wir etwa ein Vierteljahr lang in der Kegelbahn einer Dorfkneipe im Massenquartier. Für uns wurden Behelfsheime gebaut, kleine, schlecht isolierte Holzbaracken. "Um diese Hütte warm zu halten", sagte Mutter, "brauchen wir Holz, viel Holz. Sie sprach mit dem Förster. Wir gingen in den Wald, fällten Bäume und rodeten Stubben.

Der Schutz, der uns bisher durch Vaters Tod gewährt wurde, versiegte in der Fremde. Das Versorgungsamt Insterburg war unbekannten Ortes evakuiert worden, und die Rentenzahlungen blieben ab November 1944 bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches aus. Arbeit gab es im näheren Umfeld nicht, und wenn in der ortsansässigen Fabrik schon mal eine Stelle frei wurde, rückten Einheimische nach. Die Spareinlagen einer Landarbeiterfamilie waren nicht groß, aber sie hielten uns eine Weile über Wasser.

Mutter erfuhr, daß in der Sachsenerz AG, Grube "Tannenberg", eine Köchin gebraucht wurde. "Ich bin keine gelernte Köchin", sagte sie, "aber was es in diesen mageren Zeiten zu kochen gibt, koche ich allemal." Sie bewarb sich und wurde angenommen. Am 23. August 1946 nahm sie ihre Arbeit auf. Mutter arbeitete im Dreischichtsystem, und ihr täglicher Arbeitsweg zur Grube und zurück betrug etwa zwölf Kilometer. Diesen Weg, der durch ein Waldgelände führte, das nachts nicht beleuchtet war, ging sie in den ersten Jahren zu Fuß.

Großmutter fragte: "Wie lange willst du das aushalten?" "Ich tue es für meine Familie", sagte sie, "für Euch. Es ist keiner sonst da, der die Familie ernähren kann." Sie hielt es knappe fünf Jahre aus. Wie es sich später herausstellte, zu wenig, um eine Rente aus der Knappschaftsversicherung zuerkannt zu bekommen.

Der Volksentscheid, der in Sachsen im Jahre 1946 über die Enteignung der Kriegsverbrecher durchgeführt wurde, traf auch die "Sachsenerz AG". Mutters Arbeitsstelle wurde von der Sowjetischen Militäradministration übernommen und verwaltet. Sie war fortan bei der Feldposteinheit 27304, Objekt 32, beschäftigt. In dieser Gegend war Pechblende, radioaktives Erz gefunden worden. Die Deutsch-Sowjetische Aktiengesellschaft "Wismut" trat auf den Plan. Es wurde ein intensiver Erzabbau betrieben. "Ich bin Bergmann, wer ist mehr?" war die Losung. Ähnlich dem Goldgräberfieber strömten Männer und Frauen zur "Wismut", ein kleines "Klondike" in Vogtlands Wäldern.

Eines besseren Verdienstes wegen arbeitete Mutter nun in der Erzaufbereitung. Hinweise auf eventuelle Gesundheitsschäden, die durch diese Arbeit auftreten könnten, nahm sie in Kauf. Ein Stäubchen aktives Erz an der Kleidung reichte, um sich langen Durchsuchungsmanövern unterziehen zu müssen. "Ich tue es für meine Familie", sagte sie.

Der Familie ging es besser. Mutter bekam Zusatzlebensmittelkarten, erhielt Bezugsscheine für Wäsche und Kleidung. Der monatlich zugeteilte hochprozentige Wismutschnaps war ein begehrtes Tauschobjekt für andere Waren und Leistungen. Endlich fand sich Arbeit in der Kunstlederfabrik am Wohnort, auch im Schichtsystem und auch gesundheitsbelastend. Dort arbeitete sie bis zu ihrem 62. Lebensjahr, zwei Jahre über das Rentenalter hinaus. Liebevoll hatte sie ihre alte Mutter betreut, die in ihrem Haushalt lebte und mit 89 Jahren starb. In ihrer gütigen Obhut waren drei Kinder groß geworden, die ihr viel Freude bereiteten, aber auch Leid. Den viel zu frühen Tod ihres jüngsten Sohnes im Jahre 1991 ertrug sie wie den ihres geliebten Mannes: in stiller, tiefer Trauer.

Wir waren eine Familie geblieben, eine Familie aus Ostpreußen. Wohlbehütet im Haushalt ihrer Tochter hatte Mutter einen geruhsamen Lebensabend. Sie starb mit 83 Jahren. "Üb' immer Treu und Redlichkeit, bis an dein kühles Grab" war ihre Lebensmaxime. Auf dem Friedhof in Reichenbach/Vogtland erinnert ein Grabstein an sie: Emma Höchst 1911 - 1994.

Trügerische Idylle: Bald mußten auch diese Menschen die Heimat verlassen. Foto: Archiv


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