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Preußische Allgemeine Zeitung / 23. Oktober 2004
Kathrin F. arbeitet als Lehrerin in Kreuzberg. Vor einigen Jahren hat sie den
Weg zum inneren Frieden gefunden und deshalb Chancen, in ihrem Beruf, den sie
liebt, das Pensionsalter zu erreichen. Sie hat sich von den Ansprüchen ihrer
Anfangszeit verabschiedet. Sie hatte, zum Beispiel, im Deutschunterricht Diktate
nach konservativer Art schreiben lassen, wie sie es als Schülerin in der DDR
erlebt hatte. Sie las einen Text langsam Satz für Satz vor, und die Schüler
mußten ihn aufschreiben, ohne Duden selbstverständlich. Die Hefte wurden dann
eingesammelt, die Diktate kontrolliert und benotet.
Es hagelte Fünfen. Sie fand das hart, aber wenigstens ehrlich. Die DDR sei
schließlich daran gescheitert, weil man sich zuviel selbst belog. Unter Kollegen
galt sie deswegen als "Stalinistin". Die freiheitliche Methode, die sie ihr
empfahlen, war diese: Man läßt den Kindern den Duden, gibt ihnen die
kontrollierten Texte zurück, geht gemeinsam die Fehler durch und diktiert
denselben Text noch einmal. Erst dann vergibt man Zensuren. Heute weiß sie, daß
ihre Kollegen es nur gut gemeint hatten. Heute "diktiert" Kathrin F. genauso wie
ihre Kollegen, und hat ihre Ruhe, keine Ärger mehr. Sie hat sich daran gewöhnt,
Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten, obwohl auf dem Stundenplan etwas
anderes steht.
Jetzt ist davon die Rede, an den Berliner Schulen die Diktate ganz abzuschaffen.
Kathrin F. ist dafür. Sie hat eingesehen, daß sie vor allem Sozialarbeiterin
ist. Sie ist damit beschäftigt, Anträge für Schülerbeihilfen auszufüllen, weil
die Eltern dazu nicht in der Lage sind. Sie hat das neue Berufsbild akzeptiert
und findet die Kinder "richtig lieb". Würde sie auch die eigenen Kinder
hierherschicken? "Um Gottes Willen!"
Man freut sich richtig, daß sie so mit sich im Reinen ist. Denn was wäre die
Alternative? Ich habe sie kürzlich erlebt. Im Wartezimmer beim Arzt las ich
einen Artikel über die Pisa-Studie. Ein Herr um die 60 musterte mich, bevor er
seinen Frust abließ. Er war Lehrer. "Wissen Sie", sprudelte er los, "da ist
nicht nur keine Bildung mehr, da fehlt es schon auf der Ebene der Phonetik an
Artikulation. Die Kinder sagen: ,Dü Dür, dü Dür'. Wissen Sie, was das heißt?"
Ich schüttelte den Kopf. "Die Tür, soll das heißen, aber sie sagen: dü
Dür, dü Dür." Er begann zu kichern. "Dü Dür." Dann wurde ich aufgerufen.
Nur Zufallsbefunde? Nein, die Situation an den Berliner Schulen ist dramatisch:
Ein 2003 veranstalteter Test unter Erstkläßlern hat ergeben, daß fast die Hälfte
der Kinder förderungsbedürftig ist, das heißt, sie sind wegen mangelnder
Sprachkenntnisse nicht in der Lage, dem Unterricht zu folgen. 20 Prozent konnten
nicht einmal einen Satz aus zwei Wörtern bilden. Naturgemäß sind es vor allem
Ausländerkinder, aber auch zehn Prozent der Kinder aus deutschen Elternhäusern
sind betroffen. Diese Kinder werden auch keine vernünftige Berufsausbildung
absolvieren können. Gerade klagte die Berliner Industrie- und Handelskammer über
das Fehlen einfacher Grundkenntnisse bei Lehrstellenbewerbern. Unter dem Titel
"Deutsch plus" sollen die Sprachtests jetzt flächendeckend durchgeführt werden.
Die Statistiken geben wenig Auskunft über die konkreten Umstände, denen die
Kinder entstammen. Der Begriff "nichtdeutsch" vernebelt sie eher, als daß er sie
erklärt. Kathrin F. schwärmt zum Beispiel von polnischen Kindern, die
bienenfleißig seien, Sprachdefizite in Windeseile aufholten und bald zu den
Klassenbesten gehörten. Ursächlich dafür sei das Interesse der Eltern, die eine
Integration und den sozialen Aufstieg wünschten und sich ge- gebenenfalls auch
um privaten Sprachunterricht kümmerten. Andere Ausländergruppen ließen dieses
Interesse vermissen.
Dieses Defizit soll wieder einmal der deutsche Staat ausgleichen. Die
Hartz-IV-Gesetze geben ihm dazu die nötigen Instrumente in die Hand. Der
Berliner Schulsenator Klaus Böger (SPD) hat jetzt vorgeschlagen, für die
Sprachausbildung der Kinder arbeitslose Grundschullehrer in Ein-Euro-Jobs
einzusetzen.
In der Regel handelt es sich um Lehrer, die nach ihrem Referendariat keine
Anstellung gefunden haben, weil der Staat kein Geld ausgibt für neue Pädagogen,
obwohl es an Lehrern mangelt. Ein fürwahr motivierender Karrierestart.
",Dü Dür'! Wissen Sie, was das heißt?" - bereits jeder zweite Schüler an Berlins
Grundschulen ist nichtdeutscher Herkunft:
Kinder einer Klasse der Ganztagsschule des Kinderzentrums "Möwensee" in
Berlin-Reinickendorf
Foto: pa |