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23.10.04 / Deutschlands lange Schatten

© Preußische Allgemeine Zeitung / 23. Oktober 2004


Gedanken zur Zeit:
Deutschlands lange Schatten
von Wilfried Böhm

Nachdenken über Deutschland" ist in unserem Land kulturell, geistig und literarisch mehr und mehr zu einer Reflexion der zwölfjährigen Herrschaft des totalitären Nationalsozialismus geworden und zwar über die Wege zu diesem totalitären System, die Zeit seiner Machtausübung sowie seine Aufarbeitung und Überwindung nach dem Zusammenbruch.

Die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem totalitären Internationalsozialismus marxistisch-kommunistischer Prägung bleibt hinter der mit dem ideologisch nationalistisch und rassistisch begründeten Nationalsozialismus zurück. Das geht nicht nur zu Lasten des Wissens um die gegenseitige Bedingtheit beider Totalitarismen, sondern auch des Bewußtseins der weltweiten Zielsetzung und der Verbrechen des Kommunismus im Rahmen seiner Machtausübung. Es geht auch zu Lasten des Wissens nachwachsender Generationen um die Bedeutung des freiheitlich-demokratischen Widerstandes gegen diese weltweiten Ambitionen des Kommunismus. Ihre menschenverachtenden Ziele konnten die Kommunisten weltweit nur deswegen nicht erreichen, weil sie auf diese entschlossene Gegenwehr trafen und dadurch gezwungen wurden, ihre Unmenschlichkeit zu zügeln. Um so notwendiger und erfreulicher ist es, wenn der 1943 in Suhl im Thüringer Wald geborene Journalist, Redakteur und Autor Peter Fischer als ersten Teil einer Trilogie jetzt den Roman "Der Schein" vorlegt, dessen Grundlage das eigene Erleben ist. Fischer läßt die Hauptfigur seines Romans mit dem Namen Michael Sahlok - ein Kryptogramm, das auf Kleists Novelle "Michael Kohlhaas" verweist und das Programm des Buches aufzeigt - deutsches Schicksal nach 1945 erleben: Der Vater fiel in den letzten Tagen des Krieges. Somit gehört Sahlok zur vieldiskutierten "vaterlosen Gesellschaft" der deutschen Nachkriegszeit, deren soziologisch unterstellte Orientierungslosigkeit einen ständigen Suchprozeß begründet, der individuelle Kraft im Erkennen der Chance hervorbringt.

Vom Einzug der Russen im Juli 1945 als Ablösung der US-Amerikaner, die sich aus Thüringen zurückzogen, berichten ihm die Mutter und die Brüder. Er erlebt Jugend und Schulzeit in der thüringischen Kleinstadt, seine erste Liebe, das Studium in Halle an der Saale. Das politische SED-System treibt ihn zum Fluchtversuch über Ungarn, der scheitert. An den Staatssicherheitsdienst der DDR ausgeliefert, folgt sein Prozeß wegen versuchter Republikflucht, die Verurteilung zu dreieinhalb Jahren politischer Haft, die er bis zum Freikauf durch die Bundesregierung 1975 in der Haftanstalt Cottbus verbringen muß.

Mit eindrucksvoller Erzählkunst vermittelt Fischer das Streben des Michael Sahlok nach der Überwindung einer "Schein"welt mit permanenter Zerstörung von Illusion, einerseits als Ergebnis von individueller Selbsttäuschung und andererseits als Opfer von ideologisch bedingter kollektiver Täuschungsabsicht.

Durch den Schein zur Realität vorzustoßen, um zur Erkenntnis zu gelangen, verlangt des Lesers ganze, nachdenkliche Aufmerksamkeit. Dafür belohnt der Autor den Leser durch das Miterleben von Schicksalen im Alltag des geteilten Deutschland.

In "Der Schein" - es werden "Der Fall" und "Die Zwischenzeit" folgen - stehen das politische und soziale Leben in der DDR im Vordergrund, aber Sahloks kritischer Blick geht auch nach "Westen", zum Beispiel, wenn der Besucher von dort das Mitbringen von in der DDR nicht erhältlichen Büchern mit dem Argument ablehnt: "Viel zu gefährlich", statt das völlig harmlose Risiko einer bloßen Beschlagnahme einzugehen.

Als Sahlok Jahre später in der Haftanstalt unter schlimmsten gesundheitsschädlichen Bedingungen an Bauteilen für den westdeutschen Siemens-Konzern arbeiten muß, empfindet er sich als "Opferlamm" in einem gigantischen Wodka-Cola-Pakt. "Feiner, gelber, unangenehm riechender Staub wirbelte bei der Bearbeitung auf ... Krebserregend."

"Was Geld so alles vermag", frozzelte Sahlok mit sich selbst auch später in dem Bus, der die freigekauften, aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassenen Deutschen gen Westen brachte. Diesmal wollte er seiner Gefühle Herr werden. "Doch es half ihm wenig. Seine Tränen flossen aus den Augenhöhlen und rannen ihm in dünnen Bächen ununterbrochen über das Gesicht."

Als er Tage später das Grab seines Vaters bei Frankfurt am Main gefunden hatte, war es ihm, als wenn eine schwer auf seinen Schultern liegende Last der Vergangenheit von ihm genommen war.

Fischer beendet sein lesenswertes Buch, indem er Sahlok kurzerhand die Straßenseite wechseln ließ, aus dem Schatten der mächtig aufragenden Bäume heraus "in den hellen Schein der Sonne ..." Was den Deutschen nach den totalitären Prüfungen und Schrecken des vorigen Jahrhunderts wohl zu gönnen ist ...

Peter Fischer: "Der Schein", Ludwigsfelder Verlagshaus, Ludwigsfelde 2004


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