25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
20.11.04 / Preußen wird nicht genutzt / Wissenschaftler: "Kulturelle Selbstverachtung" vesperrt Deutschen den Zugang

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. November 2004


Preußen wird nicht genutzt
Wissenschaftler: "Kulturelle Selbstverachtung" vesperrt Deutschen den Zugang
von Thorsten Hinz

Berlin, im Herbst 2004. Am Schluß der Diskussion im vollbesetzten Leibnitz-Saal begann der Potsdamer Historiker Jürgen Kocka sich zu wundern. Eine Stunde lang habe man sich intensiv über Preußen unterhalten, ohne sich auf dessen Militarismus oder Demokratiefeindlichkeit zu kaprizieren. Vor 20 Jahren sei das noch ganz anders gewesen.

Was sei der Grund für die veränderte Wahrnehmung? Die originellste Antwort gab der Konfliktforscher Herfried Münkler von der Berliner Humboldt-Universität. Den neuen Blick auf Preußen erklärte er mit der internationalen Großwetterlage, die von Kriegen, dem Zerfall von Staaten und der Notwendigkeit ihrer Neubildung geprägt sei. Da könne man vom heterogenen, aber stabilen preußischen Staat einiges lernen. Der sozialwissenschaftliche Ansatz reiche nicht aus, um das Funktionieren eines Staates zu erklären. In der Dritten Welt zeige sich gegenwärtig, wie Länder an der Korruption ihrer herrschenden Schichten zugrunde gingen. Er wolle die preußischen Eliten keinesfalls idealisieren, aber viele ihrer Angehörigen hätten einen idealistischen Ethos besessen. Und es sei doch kein Zufall, daß die asiatischen "Tigerstaaten", die in den letzten Jahren einen großen Sprung nach vorn gemacht haben, auch als Preußen des Fernen Ostens bezeichnet würden. Insofern sei es denkbar, daß Preußen noch eine Zukunft habe.

Eingeladen zu der Diskussion hatte die Akademie der Wissenschaften Berlin-Brandenburg in ihr Gebäude am Gendarmenmarkt in Berlin. Anlaß war ihr neues Langzeitprojekt "Preußen als Kulturstaat". Preußen, so Versammlungsleiter Jürgen Kocka in seiner Begrüßung, sei ein bisher wenig erforschtes Feld, im Unterschied etwa zu Bayern. Schuld daran sei auch die Finanzmisere, die zur Auflösung der Historischen Kommission in Berlin und zum Abbau von Professorenstellen geführt habe. Um so höher ist der Abschluß des zwölfbändigen Regestenwerks zu den Akten des Preußischen Staatsministeriums von 1817 bis 1934 zu bewerten. Jetzt sollen auch die Akten des Kultusministeriums aus dem Zeitraum von 1870 bis 1934 erfaßt werden. Weitere Forschungsthemen sind unter anderem die preußische Minderheiten-, Innovations- und Bildungspolitik sowie die praktizierte Toleranz.

In seinem halbstündigen Eröffnungsvortrag schlug Klaus-Dieter Lehmann, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, einen Bogen von 1701 bis in die Gegenwart. Bei der Gelegenheit stellte er klar, daß es ihm bei seinem Vorschlag einer "Nationalstiftung" keineswegs um die Ausmerzung des Namens "Preußen" gegangen sei (im Sommer war eine mögliche Umbenennung der Stiftung heftig diskutiert worden, die PAZ berichtete). Noch immer würde er aus politischen und finanziellen Gründen den Titel "Nationalstiftung Preußischer Kulturbesitz" befürworten.

Die preußische Bildungspolitik ist laut Lehmann schon seit dem 18. Jahrhundert vorbildlich gewesen. Vergleichbare Erfolge bei der Bekämpfung des Analphabetismus gab es nur in Schottland und den Neuengland-Staaten. Der Beginn des preußischen Kulturstaates läßt sich auf die Kriegsniederlage gegen Napoleon 1806 datieren. Lehmann zitierte das geflügelte Wort, Preußen habe damals an geistigen Kräften gewonnen, was es an physischen verloren habe. Kultur und Wissenschaft wurden zum Motor des gesellschaftlichen Aufbruchs. Der preußische Staat ging dabei nicht zentralistisch vor, sondern achtete die Eigenarten der regionalen Milieus. Kultur wurde geradezu identitätsstiftend.

Den Schwerpunkt legte Lehmann auf die Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Berliner Museumsinsel, deren Bau 1830 begonnen und 1930, mitten in der Weltwirtschaftskrise, mit der Errichtung des Pergamon-Museums abgeschlossen wurde. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts zählte das Ensemble zu den reichsten Universalmuseen der Welt. Der damalige Beschluß, die Bauarbeiten am Pergamon-Bau trotz immenser finanzieller Schwierigkeiten fortzusetzen, war auch eine beeindruckende Werteentscheidung zugunsten der Kultur gewesen. 2001 ist die restaurierte Alte Nationalgalerie wieder eröffnet worden. Im kommenden Jahr soll das Münzkabinett im Bodemuseum nach seiner Restaurierung zugänglich werden, ein Jahr später das gesamte Gebäude. Bis 2008 ist hoffentlich der Wiederaufbau des Neuen Museums beendet. Danach steht die Restaurierung und Erweiterung des Pergamon-Baus bis 2013 an.

Im Unterschied zu den Museen in London und Paris gibt es gegenüber der Berliner Museumsinsel keinerlei Rückgabeforderungen. Das hat seinen Grund: Die Briten und Franzosen hatten wertvolle Artefakte nämlich als Kolonialtrophäen in ihre Museen verschleppt. Preußen-Deutschland hatte dagegen viel Geld in die archäologischen Wissenschaften gesteckt. Deutsche Archäologen waren die besten der Welt und wurden von den Herrschern des Nahen und Mittleren Ostens ausdrücklich zu Grabungen eingeladen. Herfried Münkler ergänzte anschließend, daß der preußische Kriegsminister Moltke sogar junge Offiziere als Vermessungsexperten für die Expeditionen abstellte.

Nach internationalen Regeln standen die Hälfte der zutage geförderten Gegenstände dem Herkunftsland, die andere Hälfte dem Entsenderstaat der Wissenschaftler, also Deutschland, zu. Die deutschen Wissenschaftler waren darüber hinaus führend am Aufbau verschiedener Nationalmuseen beteiligt, gewissermaßen als Entwicklungshelfer. Aus diesem Grund befindet sich in Berlin auch eine Kopie der Inventarliste des Nationalmuseums Bagdad, mit deren Hilfe die Verluste, die der Irakkrieg angerichtet hatte, festgestellt werden konnten.

Anschließend stellte Jürgen Kocka den Zusammenhang zwischen Kultur und Militär in Preußen zur Diskussion. Der Bielefelder Sozialgeschichtler Hans-Ulrich Wehler wollte lieber von "Ambivalenz" sprechen. Die Kulturleistungen seien vom protestantischen Bildungsbürgertum, nicht von den preußischen Monarchen vollbracht worden. Eine andere Erklärung gab der Würzburger Historiker Wolfgang Neugebauer. Die einseitige Orientierung Preußens auf den militärischen Bereich habe auf der anderen Seite viele Freiräume eröffnet. So sei die Zensur in Preußen erstaunlich großzügig gewesen. Allerdings stand diese Auffassung im Gegensatz zur These von Lehmann, daß der preußische Staat Kultur und Wissenschaft ausdrücklich gefördert hatte und nicht bloß geduldet. Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg, Präsident der Akademie der Künste in Berlin, gab sich als Preußen-Bewunderer zu erkennen. Überhaupt sei das Bild von Preußen und Deutschland im Ausland viel besser als in Deutschland selbst. Muschg zeigte sich ratlos, warum das heutige Deutschland nicht in der Lage ist, sich ein Beispiel an Preußen zu nehmen und ebenfalls Kultur und Bildung als Reformmotor zu nutzen. Als Grund vermutete er eine hierzulande grassierende "kulturelle Selbstverachtung". Die preußischen Zweideutigkeiten und Extreme sieht er im Dichter Heinrich von Kleist personifiziert und vereint.

Herfried Münkler betonte, daß Militarismus und Krieg nicht ein und dasselbe seien. Preußen habe weniger Kriege als andere Länder geführt. Wenn es trotzdem bis heute als kriegslüstern gilt, dann lag das am "symmetrischen Charakter" dieser Kriege, die sich wegen ihrer Wucht in ganz anderer Weise in das Gedächtnis eingebrannt haben als die Kolonialkriege. Im übrigen steht der Kultur- und Bildungsanspruch nicht automatisch im Widerspruch zur Militärmacht. Im Zuge der nach 1806 erfolgten Militärreform wurde die Philosophie als obligates Ausbildungsfach für Offiziersanwärter eingeführt. Preußen habe viele begabte Talente aus dem Ausland angelockt. Daran knüpfte Neugebauer den Begriff des "Clausewitz-Typus". Auch ausgesprochen konservative, ja reaktionäre Militärs und Politiker seien Bildungseinflüssen offen gewesen, hätten sich mit philosophischen und historischen Schriften beschäftigt und seien von ihnen sogar inspiriert worden.

Es war eine konzentrierte Diskussion, die von gegenseitiger Achtung und Respekt zum Gegenstand geprägt war. Statt einer Talkshow erlebte man politische Kultur, Hauptstadtkultur. Anschießend gab es eine konzertante Aufführung der Oper "Kronprinz Friedrich" von Siegfried Matthus.

 

"Im napoleonischen Krieg gewann Preußen an geistigen Kräften, was ihm an physischer Kraft verlorenging": Unter König Friedrich Wilhelm IV., hier sein Reiterstandbild vor der Alten Nationalgalerie, begann 1830 der Bau der weltweit einzigartigen Berliner Museumsinsel  Foto: Archiv Berlin


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren