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20.11.04 / Schwenkitten '45 Teil II / Geschichte eines Tages und einer Nacht

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. November 2004


Schwenkitten '45 Teil II
Geschichte eines Tages und einer Nacht

Ostpreußen 1945 - Der Nobelpreisträger berichtet in seiner autobiographischen Erzählung "Schwenkitten '45" erstmals über seine Kriegserfahrungen. Die Verteidigung der Heimat bei Kursk im Sommer 1943 und der Vorstoß nach Ostpreußen im Winter 1945 sind Thema dieser deutschen Erstveröffentlichung. Alexander Solschenizyn, im Zweiten Weltkrieg Kommandeur einer Schallmeßbatterie, macht die Tapferkeit der Soldaten, die Unfähigkeit der Politchargen und die Not der Zivilbevölkerung zu seinem Thema. Schicksalhafte Ereignisse für Solschenizyn: Noch in Ostpreußen, kurz nach den geschilderten Ereignissen, wurde er verhaftet und in die stalinistische Welt des Massenterrors, in den "Archipel GULag", deportiert. Mit dieser Erzählung, die nun erstmals in deutscher Sprache vorliegt, knüpft der Literaturnobelpreisträger an die großartige Prosa seines "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" an. Hier folgt nun Teil II, der bei Langen-Müller erschienenen Veröffentlichung Solschenizyns, die seit Folge 46 in der Preußische Allgemeinen Zeitung abgedruckt wird.

Also doch Abmarsch! Und das am Abend! So ist es ja immer, wenn man nicht die geringste Lust hat, sich zu bewegen, und nur noch am eingenommenen Platz übernachten möchte. Aber 1.500 - das verblüffte. Das war während des ganzen Krieges noch nicht vorgekommen. Stracks nach Osten, daß wir das noch erleben. Gewohnt waren wir 4.000 bis 5.000 nach Westen, mit Abweichungen.

Nein, schon vorher war Stabschef Weressowoj von der Notwendigkeit geplagt, die vergifteten Fahrer unverzüglich zu ersetzen. Es gab kaum Reserven. Welche Fahrzeuge sollte man mitnehmen, welche sollten stehen bleiben? Am meisten hatte die 1. Abteilung gelitten. So bat Oberstleutnant Weressowoj den Stab der Artillerieeinheit, sie am Ort zu lassen und der 2. und 3. Abteilung ihre Schlepper zu geben. Anders ginge es nicht. Es wurde gestattet.

Sich auf einen nächtlichen Vormarsch einzustellen, fällt nur in den ersten Minuten schwer. Und schon sind die Zugmaschinen an 24 schwerkalibrige Haubitzen gekettet - ganz frech, mit Scheinwerfern. Dahinter haben sich die Hilfsfahrzeuge gereiht. Ringsum Motorengeheul.

Zwei Abteilungskommandeure in weißen, kurzen Halbpelzen und der Kommandeur der Instrumentalaufklärung im langen Mantel begaben sich zum Brigadestabschef, um genaue Instruktionen über Aufmarschgebiet und Aufgabe einzuholen.

Aber die Aufgabe? Der Stabschef konnte sie selbst nur vermuten. Aufklärungsdaten vom Armeestab gab es nicht, konnte es auch bei dem schnellen Vorstoß und dem trüben Tag nicht geben. "Sieben bis acht Kilometer östlich", das sagte bei weitem nicht genug. Das Meßtischblatt - ein Kilometer = zwei Zentimeter - übermittelt die Beschaffenheit des Geländes, aber nicht ganz vollständig. Natürlich: Chausseen und Feldwege, bepflanzte und unbepflanzte; und die Windungen der Passarge, die von Süden nach Norden fließt, und einzelne, verstreute Gehöfte. Alle Gehöfte? Und wie viele Wege dorthin? Sind die Gehöfte bewohnt oder nicht?

Oberstleutnant Weressowoj befahl auf gut Glück: Die 2. Abteilung bleibt etwas südlicher, die 3. geht etwas nördlicher. Sie bildeten ungefähre Ovale.

Major Bojew stand bei seinem auf dem Kartenbrett auseinander gefalteten Meßtischblatt und betrachtete mißvergnügt die Karte. Wie viel hundert Mal hatte er im Krieg eine "Aufgabe zu erfüllen" gehabt! Und nicht selten war es vorgekommen, daß die Position des Gegners nicht angegeben wurde und unbekannt blieb, dann mußte man sich herantasten. Aber hier - 25 Kilometer von diesem Liebstadt entfernt -, wie soll man da herauskriegen, wo Niemandsland ist, wo die aufgerissene Flanke der Deutschen verläuft? Und die Hauptsache: Wo ist unsere Infanterie? Und wo die Schützendivision, die hierher beordert wurde? Wahrscheinlich zurückgeblieben, ist den Panzern nicht nachgekommen, wurde auseinandergezogen - und wie weit? Wo soll man sie suchen?

Doch die wie immer feste Stimme Weressowojs verriet keine Zweifel. Die Schützendivision war sicher vorhanden, wenn auch auseinandergezogen, natürlich. Und die Deutschen? Die verblüfften Deutschen werden sich wahrscheinlich Richtung Königsberg zurückziehen. Der Brigadestab wird nach Liebstadt oder Umgebung gehen. Irgendwo dort wird auch der Divisionsstab liegen.

Aber worin liegt der Sinn, vor Mitternacht Feuerstellungen zu beziehen? In der Dunkelheit läßt sich der präzise topographische Standort nicht feststellen, nur nach örtlichen Orientierungen - annähernd, genauso annähernd wird auch das Schießen sein.

Ja, und die Geschütze? Mit dem höchst unvollständigen Kampfsatz?

Auch die Etappen sind zurückgeblieben, sie müßten herangeholt werden. Bojew betrachtete Weressowoj schräg von unten. Auch mit dem unmittelbaren Vorgesetzten kann man sich nicht verständigen. Wie sich auch dieser mit seinem eigenen Vorgesetzten nicht verständigen kann. Denn der Vorgesetzte hat immer Recht.

Auf winterlicher Straße bei Glatteis sollte man unversehrt in dieses Liebstadt ziehen, das würde bestenfalls drei Stunden dauern. Hinter den Wolken müßte schon der Mond sein, also wird es wenigstens nicht absolut dunkel sein.

Gleichmäßig brummten die Zugmaschinen. Die ganze Kolonne, von Dutzenden von Scheinwerfern beleuchtet, zog aus dem Dorf auf die Chaussee hinaus. Es dauerte keine halbe Stunde. Dann entfernte sich das Motorengeräusch.

Welche Begeisterung über den Sieg! Und diese Stille, diese eigenartige Taubheit - auch sie sind Zeichen des Sieges.

Und der überall verstreute, teils noch warme deutsche Reichtum. Sammel ihn ein, schick ihn nach Hause. Dem Soldaten sind fünf Kilo erlaubt, dem Offizier zehn, dem General ein Pud. Wie kann man das Beste erwischen? Sich nicht vertun? Und du? Iß, trink, bis zum Überdruß.

Jedes Quartier wie ein Wunder. Jedes Nachtlager wie ein Fest.

Brigadekommissar Oberstleutnant Wyshlewskij hatte sich das schönste Haus im Dorf gewählt. Im Erdgeschoß statt eines Zimmers ein großer Saal mit einem Dutzend elektrischer Lampen an den Wänden und an der Decke. Und von irgendwoher kam auch ständig Strom, ebenfalls ein Wunder. Das Radio (wir werden es mitnehmen) dudelt Tanzmusik.

Als Weressowoj eintrat, um zu melden, saß Wyshlewskij, breitschultrig mit großem Kopf und abstehenden Ohren, tief eingesunken in ein weiches Sofa an einem ovalen Tischchen mit glückseligem, rosigem Gesicht. (Diesem Kopf hätte ein breitkrempiger Hut besser gestanden als die Offiziersmütze.)

Neben ihm auf dem Sofa saß Hauptmann Tarassow vom Smersch - immer zupackend, immer wachsam, leicht beweglich, mit sehr entschlußfreudigem Gesicht.

An der einen Seite standen die Flügeltüren zum Eßzimmer offen, dort wurde der Tisch zum Abendessen vorbereitet. Zwei, drei weibliche Gestalten huschten hin und her. Eine im hellblauen Kleid war dem Anschein nach eine Deutsche. Aber auch ein Mädchen aus unserer Politabteilung war dabei, sie hatte die Uniform abgelegt und sich aus ostpreußischen Kleiderschränken bedient. Warmer Essensgeruch wehte herüber.

Weshalb war Weressowoj gekommen? In Abwesenheit des Brigadekommandeurs war er formell der Chef und hätte selbstständig jede Entscheidung treffen können. Doch da er schon 15 Jahre Dienst tat, hatte er sich gründlich die Gewohnheit zu Eigen gemacht, nichts ohne den Politpik zu entscheiden, immer dessen Willen zu respektieren und keine Einwände zu erheben. Wie soll es mit dem Transport des Stabes gehandhabt werden? Sollte er nicht sofort vonstatten gehen?

Ganz klar: Das war keinesfalls möglich. Denn hier warteten warmes Abendessen und andere Annehmlichkeiten. Solche Opfer konnte man doch von keinem lebendigen Menschen verlangen.

Der Kommissar lauschte mit halbgeschlossenen Augen der Musik und sagte wohlwollend: "Na, Kostja, wohin sollten wir jetzt denn fahren? Mitten in der Nacht - was sollen wir dort? Wo Halt machen? Morgen werden wir früher aufstehen und dann losfahren."

Und der Smersch-Offizier, wie immer in jeder Geste felsenfest überzeugt, nickte nachdrücklich. Weressowoj widersprach nicht, stimmte nicht zu, stand da wie ein Stock.

Wyshlewskij erbarmte sich: "Komm zum Essen zu uns, so in 20 Minuten."

Weressowoj stand, überlegte. Er hatte selbst gar keine Lust, abzufahren, diese ostpreußischen Nachtquartiere sind zu verführerisch. Und noch eine Überlegung: Die 1. Abteilung ist unvollständig, die muß man doch erst auffüllen. Aber man kann ihm auch den Kopf waschen. Tarassow mischte sich ein und riet: "Brechen Sie doch einfach die Verbindung zur Armee und zu den Abteilungen ab. Für alle werden wir dann unterwegs, auf Verlegung sein."

Nun ja, wenn das einer vom Smersch rät ... wird er doch nicht selbst denunzieren? Aber nachts loszuziehen - wirklich, das übersteigt die Kräfte.

Den ganzen Abend über hatte es geschneit, Schnee bedeckte die ver-eiste Straße. Sie fuhren langsam, nicht nur wegen der Schneeglätte, sondern auch, damit die Pferde nicht zu weit zurückblieben.

In Liebstadt trennten sich die Abteilungen. Der Kommandeur der 3. Abteilung zog nördlich weiter. Abschiedsumarmung.

Bojew studierte im Licht einer Taschenlampe die Karte. Er hatte auf das östliche Passargeufer überzugehen, dann anderthalb Kilometer Feldweg, sodann Feuerstellungen einzurichten, wahrscheinlich jenseits des Dorfes Schwenkitten, damit vorn nach Osten bis zum nächsten Wald noch 600 Meter Sicht blieb und das Schießen bei der flachen Flugbahn der Geschosse nicht gefährlich würde.

Die Brücke über die Passarge war aus Eisenbeton, ihre Tragfähigkeit zu überprüfen war nicht notwendig. Das linke westliche Ufer war steil, von ihm ging eine abschüssige Zufahrt zur Brücke.

Hier stellten sie Wegweiser für die Pferdeschlitten auf. Den motorisierten Einheiten standen sollmäßig weder Pferde noch Bauernwagen zu. Die Führung hielt das für unnötig. Doch schon während der Offensive von Orjol und dann später beim Vormarsch schnappten sich alle Batterien mal herrenlose, mal erbeutete Pferde und bildeten mit ihnen einen Hilfstroß. Die Führung von so einem Troß hatte ein sachkundiger Feldwebel, der seiner Batterie folgt und sie immer findet. Natürlich, die Zugmaschinen Allis-

Chalmers sind hervorragend, doch mit ihnen gelangt man nicht überall hin. Später, vor allem, als wir uns Deutschland immer mehr näherten, nahm man statt unserer mittelgroßen Pferdchen die starken deutschen Lastpferde, richtige Reckenpferde. Und im Winter benutzte man statt der Bauernwagen Schlitten. Wäre man ohne Schlitten gewesen, wie fürchterlich hätte man sich dann von der Feuerstellung im jungfräulichen Schneegelände zum Beobachtungsstand abrackern müssen!

Das Schneien ließ nach, es hatte tüchtig geschneit. Der Schnee reicht fast bis zum halben Stiefelschaft. Auf den Geschützplanen sind Schneemützchen gewachsen.

Ringsum keine Menschenseele. Nirgendwo. Alles tot. Keinerlei Spuren.

Soweit im Laternenlicht zu erkennen war, fuhren wir über eine bepflanzte Straße, eine Art kleiner Allee. Auch hier niemand. Wir erreichten Schwenkitten. Fremdartige Gebäude. Alle Häuser dunkel, nirgends Licht. Fortsetzung folgt

 

Alexander Solschenizyn: Der 1918 geborene russische Schriftsteller gilt als einer der glaubwürdigsten und unermüdlichsten Kritiker der Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Sowjetreich. Foto: Archiv

Alexander Solschenizyn: "Schwenkitten '45", Langen-Müller, München 2004, geb., 205 Seiten, 19.90 Euro


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