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20.11.04 / In Würde altern / Die Generationen müssen wieder mehr aufeinander zugehen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. November 2004


In Würde altern
Die Generationen müssen wieder mehr aufeinander zugehen

Das Wartezimmer beim praktischen Arzt war wie immer proppenvoll. Kein Wunder, eine Grippewelle war im Anrollen, las man in der Zeitung. Männer und Frauen waren am Schniefen, kämpften meist erfolglos gegen einen Hustenreiz an und hatten fiebrig glänzende Augen. Ein Kind quengelte, wollte nach Hause. Da half auch keine Ablenkung durch ein zerfleddertes Kinderbuch mit lustigen, bunten Illustrationen.

Die alte Dame wirkte wie ein ruhender Pol in all dem Gewusel. Sie hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und beugte ihren weißhaarigen Kopf tief über eine Illustrierte. Aufmerksam betrachtete sie die bunten Bilder, als sie aber zum Text kam, nahm sie kurzerhand eine Lupe aus der Tasche. Eine jüngere Frau, die neben ihr saß, meinte: "Das ist ja toll. Eine Lupe ... ich kann das Kleingedruckte auch nicht mehr mühelos entziffern ... vor allem auf den Waschzetteln der Medikamente und in den Telefonbüchern ... entsetzlich." Die Weißhaarige nickte und lächelte. "Ja, mit zunehmendem Alter werden die Augen immer schlechter. Mit 70 konnte ich noch ganz gut lesen. Aber jetzt mit 94 ..."

Die Patienten im Wartezimmer waren urplötzlich still geworden und hatten der alten Dame zugehört. Einige schüttelten verwundert die Köpfe: 94 Jahre, du meine Güte!

Die Weißhaarige blickte auf und schmunzelte. "Doch", meinte sie, als sie das Erstaunen in den Blicken der anderen sah, "ich bin tatsächlich so alt. Aber ich habe mein Leben lang gearbeitet, und es hat mir Spaß gemacht. Ich bin viel geschwommen - bis vor einigen Jahren, habe viel Sport getrieben ... Manchmal denke ich aber, es ist ein Wunder, daß ich noch da bin ... Nun wollen sie mich in ein Altersheim stecken, aber ich habe mich gewehrt. Ich schaffe meinen Haushalt noch ganz gut allein. Ich koche jeden Tag etwas für mich, und beim Einkaufen hilft mir mein junger Nachbar. Er ist 60 und noch gut beieinander. Der Doktor sagt auch, daß mein Gedächtnis noch gut arbeitet. Und das ist doch viel. Sicher, die Knochen tun manchmal weh und es geht alles nicht mehr so schnell wie früher. Und wenn es mal soweit ist, dann will ich still einschlafen. Aber das hat man ja nicht selbst in der Hand. Bis dahin aber will ich mein Leben selbst bestimmen."

"Der Nächste bitte!" klang es aus dem Lautsprecher, und die alte Dame erhob sich. Ein wenig gebeugt ging sie durch das Wartezimmer, lächelte und wünschte allen einen guten Tag und vor allem gute Besserung. Auf einmal war die Stimmung im Wartezimmer wie ausgewechselt. Aus Moll war Dur geworden ...

In Würde altern - wer mag sich das nicht wünschen. Seinen Weg selbst bestimmen - welch ein Traum. Doch nicht immer ist es einem gegeben, diesen Traum zu erfüllen. Krankheit und Gebrechlichkeit machen oft einen Strich durch diese Rechnung. Bei der Entwick-lung der Bevölkerungspyramide - es gibt immer mehr alte Menschen, junge wachsen kaum nach - ist die Gesellschaft, ist jeder einzelne mehr denn je gefordert, und das nicht nur in finanzieller Hinsicht.

Die Generationen müssen wieder mehr aufeinander zugehen, einander zuhören und respektieren. Heute schon profitieren junge Menschen vom Senior Experten Service, bei dem Ruheständler ihr Wissen an jüngere weiter vermitteln, und auch vom sogenannten "Oma-Hilfsdienst", den es bereits in vielen großen Städten gibt und der einspringt, wenn Not am Mann ist. Ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn die Generationen einander respektieren, dann wird Alter auch nicht mehr als Last empfunden, sondern als Bereicherung für beide Teile.  Helga Steinberg


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