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20.11.04 / Die "Politik der freien Hand" / Wie Kaiser Wilhelm II. Deutschlands Einkreisung bis zu den Marokkokrisen begünstigte

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. November 2004


Die "Politik der freien Hand"
Wie Kaiser Wilhelm II. Deutschlands Einkreisung bis zu den Marokkokrisen begünstigte

Unter dem jungen Wilhelm II., dessen militärisch eingefärbte Reden das Ausland argwöhnisch beobachtete, stand das kleindeutsche Kaiserreich auf der Höhe seiner Macht. Doch schon kündigten sich innerhalb dieses Glanzes die großen sozialen Spannungen der kommenden Auseinandersetzungen mit dem Hochkapitalismus jener Zeit an.

Die geistige Atmosphäre der 80er Jahre des 19. Jahrhundert zeigte eine eigentümliche Diskrepanz zwischen nationaler Aufgeregtheit einerseits und einer Verkümmerung des Gemüts auf der anderen Seite. Das große Wort in Deutschland führten die Industriellen, allein nach der Reichsgründung entstanden über 500 neue Industriebetriebe mit einem Kapital von mehr als eineinhalb Milliarden Goldmark. Da erschien 1890 ein Buch eines Deutschen, das ungeheueres Aufsehen erregte und noch im Jahre des Erscheinens 13 Auflagen hervorrief, "Rembrandt als Erzieher". Der Anonymus, Julius Langbehn, wie sich später herausstellte, hatte geschrieben, eine politische Neugeburt Deutschlands sei nötig; Jena habe die Deutschen sittlich mehr gefördert als Sedan; das neue Reich müsse erst germanisiert werden, damit dem politisch-wirtschaftlichen Aufschwung von 1870/71 der geistige Aufschwung des Volkes folgen möge.

Sowohl der junge Kaiser als auch sein von ihm entlassener Kanzler hatten das Buch gelesen, das für Wilhelm II. nicht gerade Schmeichelhaftes enthielt. Selten ist der Regierungsantritt eines Monarchen, den sicher hohe Gaben auszeichneten, von so erwartungsvollen Wünschen begleitet worden. Doch einige Regierungsjahre hatten genügt, die hochgespannten Erwartungen weiter Volkskreise herabzustimmen. Durch den frühen Tod seines Vaters und Vorgängers Friedrich III, war Wilhelm mit 29 Jahren Herrscher über ein Volk von 50 Millionen Untertanen geworden. Zu kurz die Zeit, um sich auf das Regierungsamt gründlich vorbereiten zu können. Geprägt von Sprunghaftigkeit, reiste Wilhelm II. viel im Lande umher und wollte es allen recht machen. Was ihm fehlte, war die für einen Monarchen wichtige Gabe der Selbstkritik. Der spätere Reichskanzler v. Bülow nannte ihn "den unausgeglichensten Menschen" der ihm je begegnet sei. Auch die häufigen Hinweise auf sein "Gottesgnadentum", daß er gewillt war, von Gott Weisungen entgegenzunehmen, riefen vielerorts Spott hervor. Manche Unsicherheiten seines Charakters beruhten auf einer als Makel empfundenen Behinderung, hervorgerufen durch den verkürzten linken Arm. Mit allerlei Kraftmeierei versuchte er, diesen bei der Geburt verursachten Fehler vergessen zu machen. In dem eitlen Publizisten Maximilian Harden erwuchs dem Kaiser ein Kritiker, dessen ätzende Feder das Frohlocken der reichgewordenen Berliner Bourgeoisie hervorrief.

Dabei konnte Kaiser Wilhelm II. ein gutes Vierteljahrhundert lang Deutschland den Frieden bewahren. Wenn die deutsche Außenpolitik zwischen 1888 und 1914 dem ausländischen Ränkespiel wenig gewachsen war, dann hat das jedenfalls nichts mit Imperialismus zu tun gehabt, im Gegensatz zu Großbritannien, das als potentieller Reichsgegner immer stärker in den Vordergrund trat. Um die Jahrhundertwende beherrschte das britische Empire, das Australien, Indien, Neuseeland und weite Teile Afrikas einschloß, etwa ein Viertel der bevölkerten Erde. Rund 350 Millionen Menschen waren Untertanen der englischen Krone, sie sorgten gleichermaßen für Rohstoffe und Absatzmärkte der britischen Industrie. Der Interessenkonflikt mit dem Reich entzündete sich an der Burenrepublik. Die bei Johannesburg entdeckten reichen Goldfelder hatten den südafrikanischen Premierminister Cecil Rhodes in dem Entschluß bestärkt, die freien Burenrepubliken Transvaal und Oranjefreistaat unter allen Umständen der britischen Krone einzuverleiben. Rhodes hatte ganz ungeniert verlautbart: "Wir sind das erste Volk der Welt, Gott hat uns berufen". An dieser Stelle trat das Deutsche Reich auf den Plan. In der bekannten "Krügerdepesche" an den Burenpräsidenten Paul Krüger (Ohm Krüger) beglückwünschte Wilhelm II. den Präsidenten, daß es gelungen sei, den räuberischen Einfall einer britischen Invasorengruppe abzuwehren. Der "stupid Jameson-raid" hatte in Deutschland eine starke Erregung ausgelöst. Man empörte sich über den Versuch, den aus Holländern und Niederdeutschen zusammengewachsenen Burenstaat zu vergewaltigen. In England dagegen löste die Veröffentlichung der Krügerdepesche einen Sturm der Entrüstung aus. Dieses Telegramm wurde als Ankündigung einer Frontschwenkung der deutschen Politik aufgefaßt. Man schloß daraus, das Reich würde mit den Briten in einen Wettbewerb um die Vorherrschaft in Südafrika treten, ja noch mehr, man erkannte im Reich den eigentlichen Mitbewerber um die Weltstellung.

Die Engländer machten sofort ein Flottengeschwader mobil, während die Buren es auf den Krieg mit den Briten (1899-1902) ankommen ließen, weil sie annahmen, Deutschland würde sie letzten Endes doch nicht im Stich lassen. Die südafrikanische Auseinandersetzung artete in einen erbitterten Kleinkrieg aus. Jeglichem Menschenrecht spottende Grausamkeiten wurden von den Engländern an der burischen Bevölkerung verübt. Präsident Krüger, der zur Behandlung seines Augenleidens nach Europa reiste und dort gleichzeitig um Hilfe nachsuchte, wurde zwar in Paris vom französischen Präsidenten aufs herzlichste empfangen, doch in Deutschland, auf das er die größten Hoffnungen setzte, empfing ihn der Kaiser nicht. Durch einen Hofbeamten ließ er Krüger bitten, wieder abzureisen, da er auf die Jagd müßte. Ohm Krüger kehrte nicht mehr in seine besiegte Heimat zurück. Er kaufte sich in Montreux am Genfer See ein Haus, wo er 1904 verstarb. Kaiser Wilhelm II. aber, Enkel der regierenden Queen Victoria, konnte das Mißtrauen der Briten nicht mehr beseitigen. Vielleicht wäre es klüger gewesen, den Buren zu helfen. Damals richteten Rußland und Frankreich an das Deutsche Reich den Vorschlag, gemeinsam England in den Arm zu fallen, das gerade im Burenkrieg engagiert war.

Vor wenigen Monaten erst, im April dieses Jahres, feierten England und Frankreich gemeinsam den 100. Jahrestag der sogenannten "Entente cordiale". Mit diesem "herzlichen Einverständnis" endete eine alte Feindschaft der beiden Mächte, die sich am 8. April 1904 im Londoner Abkommen verpflichteten, ihre kolonialen Ansprüche in Nordafrika und Asien gegenseitig anzuerkennen. Die Entente cordiale beabsichtigte seinerzeit aber noch etwas ganz anderes; die jahrhundertealten Rivalen verständigten sich nämlich, die außenpolitische Isolierung des Reiches voranzutreiben. Natürlich gehörte die "Revanche" zum festen Wortschatz der meisten französischen Politiker, doch darüber hinaus war Frankreich durch ein Militärabkommen mit Rußland verbunden, womit die Entente die Einkreisung des Deutschen Reiches perfektionierte.

Nach dem Rücktritt des bereits 81jährigen Fürsten Hohenlohe vom Kanzlerposten, berief Wilhelm II. den 30 Jahre jüngeren Grafen Bernhard v. Bülow zu seinem Nachfolger. Bülow, ein Meister der Unterhaltung, gewann durch seine gewandte Art bald die Gunst des Kaisers, der zu ihm in ein freundschaftliches Verhältnis trat. Der neue Reichskanzler galt als Anhänger der Bismarckschen Theorie, immer "zwei Eisen im Feuer halten", das heißt sich freundlich mit einem Land arrangieren, aber stets mit Rußland gut stellen. Der Rat Bülows galt dem Kaiser so viel, daß er häufig eigene Bedenken zurückstellte. Als Wilhelm II. im Frühjahr 1905 seine Erholungsreise ins Mittelmeer vorbereitete, regte das Auswärtige Amt an, die Fahrt im marokkanischen Hafen Tanger zu unterbrechen. Ein Besuch beim Sultan von Marokko sollte dessen Stellung gegenüber den Franzosen stärken. Auf wiederholtes Drängen Bülows landete Wilhelm II. in Tanger, gegen seine "innere Überzeugung", wie er schreibt. Tatsächlich faßte Frankreich diesen Marokkobesuch als eine schwere Provokation auf. Die Bestätigung erfuhr der Kaiser prompt bei seiner Weiterreise nach Gibraltar. Dort ließen die ob des Besuchs erbosten Briten durchblicken, daß sie im Falle einer französischen Kriegserklärung, Frankreich zu Hilfe gekommen wären.

1911, die Franzosen hatten die nordafrikanische Stadt Fes besetzt, folgte die Zweite Marokkokrise. Wilhelm II. war der Einladung des Königs Georg von England gefolgt, an einer Enthüllung des Standbildes der Königin Victoria, ihrer gemeinsamen Großmutter, teilzunehmen. Das Auswärtige Amt hatte den Kaiser gebeten, bei passender Gelegenheit die marokkanische Frage zu erörtern. In einem harmonisch verlaufenden Gespräch der beiden Monarchen meinte der Gastgeber, am besten ließe man die Frage ruhen, schließlich machten die Franzosen nichts anderes, als was die Engländer in Ägypten auch getan hätten. Dieser einvernehmlichen Stellungnahme schloß sich das Berliner Auswärtige Amt nicht an. Im Gegenteil, um weiterhin Einfluß in Marokko zu demonstrieren, beorderte man das Kanonenboot "Panther" nach Agadir an der Atlantikküste und riskierte den mißglückten Versuch des in die Geschichte eingegangenen "Panthersprungs nach Agadir". Diesmal lag die Schuld an der unklugen Zick-Zackpolitik nicht bei Wilhelm II. Er hatte sich strikt an die Reichsverfassung gehalten, die dem Kaiser nur insoweit Einfluß auf die auswärtige Politik zugestand, als der Reichskanzler sie ihm einräumte.

Rückblickend schreibt Wilhelm II. über die von ihn verantwortete Außenpolitik: "Wenn Fehler gemacht wurden gingen sie stets aus der übergroßen Sorge um die Erhaltung des Weltfriedens hervor. Solche Fehler sind keine Schuld". R. Ruhnau

 

Wilhelm II: Auftritte wie dieser trugen im Ausland zum Zerrbild vom martialischen Deutschen bei. Foto: DHM

 

Die Idee vom Frieden durch Abschreckung

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war Deutschlands Seemacht unbedeutend und diente hauptsächlich dem Küstenschutz. Erst 1867 billigte der Bundestag des Norddeutschen Bundes den von Bismarck eingebrachten Flottengründungsplan, der den Bau von 17 Kriegsschiffen zum Schutz des auswärtigen Handels vorsah. Beim Regierungsantritt Wilhelm II. war die Marine noch in der Entwicklung begriffen, erst als Admiral Alfred von Tirpitz (1849-1930) im Jahre 1897 zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes aufrückte, begann ein planmäßiger Aufbau der Kaiserlichen Flotte.

Tirpitz, der sich mit dem Ausbau des Torpedowesens einen Namen gemacht hatte, entwickelte in enger Zusammenarbeit mit der Schichau-Werft die hochseetüchtigen Torpedoboote. Er hatte klar erkannt, daß Deutschlands industrieller und wirtschaftlicher Aufstieg, verbunden mit einer rasanten Zunahme des auswärtigen Handelsverkehrs, zu einem unversöhnlichen Gegensatz mit dem meerbeherrschenden Großbritannien führen mußte. Das britische Empire war in diesen Jahrzehnten die unbestrittene Vormacht der Welt. Aber der Abstand zu Deutschland, dessen Handel und Industrie enorme Zuwachsraten aufwies, die weit über den englischen lagen, wurde in manchen Bereichen immer kleiner. In England begann man, die deutsche Flotte als Bedrohung zu empfinden. Tirpitz besaß des Kaisers Vertrauen, er hoffte, mittels des "Risikogedankens" Deutschland zur zweiten Weltmacht ohne Krieg machen zu können. Die deutsche Flotte mußte so stark sein, daß es auch für die stärkste Seemacht ein Risiko bedeutete, sie anzugreifen. Geschickt verstand er es, seine Pläne unter das Volk zu bringen. Der neugegründete Flottenverein warb so erfolgreich in der Öffentlichkeit für die Marine, daß schließlich der Reichstag der Marinebegeisterung nachgeben mußte und die Flottengesetze bewilligte.

Die Kaiserliche Marine wurde zur zweitstärksten nach der britischen; Die Tirpitzischen Baupläne steigerten andauernd die Größe, die Panzerung, die Bewaffnung und die Schnelligkeit der Schiffe. Nicht nur die Werften, auch die Eisenindustrie und der Bergbau machten glänzende Geschäfte. Die Briten verlangten, die deutsche Flotte solle nur halb so stark sein wie die britische, niemals würden sie es dulden, daß eine fremde Flotte ihnen gefährlich werden könnte, eher würden sie zuschlagen, wie es Nelson 1801 in Kopenhagen tat, als er die dänische Flotte vernichtete.

Der Ausbau Helgolands zu einem Stützpunkt für Kreuzer, Torpedoboote und später U-Boote begann. Infolge des Größenwachstums der Schiffe wurde die Verbreiterung des Kaiser-Wilhelm-Kanals erforderlich. Die neuen Schleusen erhielt die größtmöglichen Abmessungen, damit auch die zukünftigen Superschlachtschiffe die Schleusen passieren konnten. Von der zunehmend feindlichen Stimmung in England wollte die Marineleitung nichts hören. Londons Versuche, den Kaiser zu Abstrichen am Flottenbauprogramm zu bewegen, blieben erfolglos. Wenn man im Kaiserreich hoffte, mit Hilfe der Flotte ein deutsch-englisches Bündnis zustande zu bringen, in welchem Großbritannien das Reich als gleichberechtigten Partner anerkannte, kann man sich über diese politische Naivität nur wundern. Das imperialistische, die Weltmärkte beherrschende Albion, duldete keinen Nebenbuhler an seiner Seite. R. R.


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