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27.11.04 / Genaue Beobachter / Zeichenkunst aus drei Jahrhunderten im Berliner Stadtmuseum

© Preußische Allgemeine Zeitung / 27. November 2004


Genaue Beobachter
Zeichenkunst aus drei Jahrhunderten im Berliner Stadtmuseum

Max Liebermann sah in der Zeichnung die "Grundlage aller bildenden Kunst". "Sie ist", so der Maler in seiner Rede zur Eröffnung der Schwarz-Weiß-Ausstellung der Berliner Secession im Herbst 1909, "der Prüfstein für das Talent des Künstlers ebenso wie für den Geschmack des Publikums." Bereits Jahre zuvor hatte Liebermann auf die Tatsache verwiesen, daß "die zeichnenden Künste von seiten des Publikums stiefmütterlich behandelt werden". Zweifellos wird die Zeichnung auch heute von vielen Kunstfreunden nicht "für voll" genommen. Das mag nicht zuletzt daran liegen, daß Zeichnungen von Künstlerhand nicht allzu oft in den Museen und Galerien zu bewundern sind. Ein Tatbestand, der nicht etwa an der Mißachtung dieser Gattung durch Museumsfachleute liegt, sondern vielmehr an deren Hochachtung für die kostbaren Blätter, die vor schädlichen Umwelteinflüssen besonders geschützt werden müssen. Um so erfreulicher ist nun eine Ausstellung, die Zeichenkunst aus drei Jahrhunderten präsentiert. Das Stadtmuseum Berlin hat seine Schatzkammern geöffnet und zeigt noch bis zum 9. Januar im Ephraim-Palais, Poststraße 16, 100 herausragende Zeichnungen von nahezu 68 Künstlern (dienstags bis sonntags 10 bis 18 Uhr; Katalog, herausgegeben von Ursula Cosmann im Nicolai Verlag, 224 Seiten, 100 farbige Abb., gebunden mit farbigem Schutzumschlag, 34,90 Euro).

Zum ersten Mal gestattet die über 90.000 Blatt umfassende Graphische Sammlung des Stadtmuseums, darunter sind etwa 20.000 Zeichnungen, einen Blick auf ihre Schätze. Die Austellung wie auch der Katalog gewähren Einblick in die Variationsbreite und stilistische Vielfalt des Mediums Zeichnung. Aquarelle, Gouachen und Pastelle sind ebenso zu finden wie Kreide-, Bleistift- oder Federzeichnungen. So vielfältig wie die Techniken sind auch die Künstler, die sich diesem Medium widmeten, und das durchaus nicht immer nur zu Studienzwecken. Antoine Pesne, Daniel Chodowiecki, Karl Friedrich Schinkel, Johann Gottfried Schadow, Eduard Gaertner, Adolph v. Menzel, Anton v. Werner, Heinrich Zille, Käthe Kollwitz, Lovis Corinth, Carl Blechen, Willy Jaeckel und George Grosz - diese Namen lesen sich wie ein Almanach der neueren deutschen Kunstgeschichte. Vom Porträt, von Stadtansichten und Landschaftsdarstellungen bis zur Karikatur, der Genredarstellung und Milieustudie reichen die Motive, darunter eine bislang unveröffentlichte freie Skizze von Schinkel, das Schloß Kamenz in Schlesien zeigend.

Nicht sonderlich bekannt ist vermutlich auch eine Bleistiftskizze von Lovis Corinth. Das als "Bildnis Frau Moll, 1905" getitelte Blatt wird im Katalog mit dem Satz kommentiert: "Über die Dargestellte ließ sich bislang nichts in Erfahrung bringen. Ein Ölbild, für welches die Arbeit als Vorstudie dienen könnte, ist unbekannt ..." Irrtum! Im Herbst 1905 malte Lovis Corinth Marie Moll, die Mutter seines Schülers und Freundes Oscar Moll (1875-1947). Auf dem Ölbild, das im Verzeichnis der Gemälde abgebildet ist und sich im Besitz der Österreichischen Galerie im Belvedere, Wien, befinden soll, sind deutlich die Figur im Hintergrund und das auf der Skizze nur angedeutete Gemälde hinter der Porträtierten zu erkennen. Corinth malte übrigens die ganze Familie Moll, neben der Mutter Marie auch Sohn Oscar und dessen Bruder sowie Margarethe Moll, eine Bildhauerin, die mit Oscar verheiratet war. Nachzulesen in der umfassenden Dokumentation, die Thomas Corinth 1979 über seinen Vater Lovis zusammenstellte.

"Aus den meistenteils flüchtig hingeworfenen Zeichnungen leuchtet der Charakter und die Manier des Künstlers oft kühner und entschiedener als aus den Gemälden hervor", hat Wilhelm v. Humboldt einmal gesagt. Bei vielen Zeichnungen aber ist die Grenze zur Malerei äußerst schmal, etwa bei Arbeiten von Adolph v. Menzel oder Lesser Ury. Aufmerksame Beobachter und begnadete Zeichner waren sie alle-samt. Und noch heute weisen sie den Betrachtern ihrer Werke den Weg zum genauen Hinsehen. S. Osman

Lesser Ury: Berliner Straße im Regen (farbige Kreiden, Deckfarben, um 1925). Der aus Birnbaum in Posen stammende Maler prägte mit seinen Bildern von Berlin das moderne deutsche Großstadtbild. Foto: Katalog


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