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11.12.04 / Schwenkitten '45 Teil IV / Geschichte eines Tages und einer Nacht

© Preußische Allgemeine Zeitung / 11. Dezember 2004


Schwenkitten '45 Teil IV
Geschichte eines Tages und einer Nacht

Ostpreußen 1945 - Alexander Solschenizyn berichtet in seiner autobiographischen Erzählung "Schwenkitten '45" erstmals über seine Kriegserfahrungen. Die Verteidigung der Heimat bei Kursk im Sommer 1943 und der Vorstoß nach Ostpreußen im Winter 1945 sind Thema dieser deutschen Erstveröffentlichung. Mit dieser Erzählung, die nun erstmals in deutscher Sprache vorliegt, knüpft der Literaturnobelpreisträger an die großartige Prosa seines "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" an. Hier folgt nun Teil IV, der bei Langen-Müller erschienenen Veröffentlichung Alexander Solschenizyns, die seit Folge 46 in der Preußischen Allgemeinen Zeitung abgedruckt wird.

Er öffnete die Augen (hatte nicht geschlafen), als Toplew eintrat: "Die Pferde sind da."

Bojew sprang auf. Toplew, noch ein Knabe fast, war zu zart für einen Stabschef. Doch die Batterieführer wollten niemanden zum Stab abgeben, so nahm man jemanden von der Aufklärung. "Ruf Boronez."

Der kräftige, gescheite Hauptfeldwebel der Abteilung, Boronez, hatte es mit wachem Auge schon erraten: den überflüssigen Beuteplunder runter von den Schlitten. Drei Schlitten sind mit Gerät für drei Beobachtungsstände, Kabelrollen, Funkgeräten, Scherenfernrohren, Handgranaten zu beladen, auch mit Waffen und irgendwelchen Säcken aus der Intendantur sowie Lebensmitteln.

"Wen hast du hinter Liebstadt unterwegs gesehen? Infanterie?", fragte Bojew.

Boronez schnalzte mit der Zunge und schüttelte seinen großen, runden Kopf. "K-keine."

Aber wo ist sie denn? Gibt es sie überhaupt nicht? Bojew ging hinaus. Trübe, verschleierte, schneebleiche Nacht. Stille ringsum, vollständige Stille. Es schneite nicht mehr.

Alle drei Batterieführer sind vor Ort, warten auf Befehle. Einer ist ständig beim Abteilungskommandeur, das wird Mjagkow sein, wie so oft. Proschtschenkow und Kassjanow befinden sich einen Kilometer links und einen Kilometer rechts bei ihren Beobachtern. Verbindung zum Abteilungskommandeur besteht nur über die Feuerstellungen.

Nun ja, sie haben schon viel gesehen, kennen ihre Pappenheimer. Jetzt ist das Wichtigste, die Plätze für die Beobachtungsstände richtig auszuwählen. Vorher ist noch festzustellen, bis in welche Tiefe man eindringen kann und muß. In dieser Dunkelheit und Stille - ohne Infanterie! Wie ist das zu erkunden? Geht man nicht weit genug vor, sitzt man nutzlos herum, geht man zu weit vor, gerät man zu leicht an die Deutschen.

"Und dann begreift, Leute: Diese Stille, diese Leere - das kann sehr, sehr ernst werden", warnte Bojew, und er beauftragte Toplew: "Such die Infanterie, Shenja, schick alle Melder los. Finde sie! Soll doch der Regimentskommandeur mich suchen. Es ist doch ... so eine ... Erkunde die Situation in der Brigade. Ich suche den Beobachtungsstand aus, bleibe mit dir in Verbindung."

Damit sprang er in den vordersten Schlitten.

*

In Abwesenheit des Batterieführers Kassjanow vertrat ihn der Zugführer des 1. Zuges der 6. Batterie, Oberleutnant Kandalinzew. Er war älter als alle Zugführer in der Brigade, fast 40. Ziemlich groß, doch ohne stramme Haltung und straffe Schultern, vor der Zeit ergraut, von umsichtiger Klugheit. Die anderen Zugführer nannten ihn Väterchen. Und Oleg Gussew, unter Großstadtschlingeln aufgewachsen, lernte von ihm viele Lebensweisheiten, die er nirgendwo sonst mitbekommen hätte.

Schon vorher, ehe sie alle vier Kanonen in Stellung brachten, hatte Kandalinzew angeordnet, 50 Meter voraus einen kleinen Fächer zur Sicherung zu besetzen. Und als die von den Geschützen gelösten Zugmaschinen schwiegen, erlaubte er der Geschützbedienung, einander an den Geschützen abzuwechseln. Gussew zeigte er weiter hinten eine kleine steinerne Scheune. "Wir gehen mal da rüber, die Knochen ausruhen."

Kandalinzew hätte die Batterie auch etwas näher bei den bequemen Häusern Stellung beziehen lassen können, doch von hier aus konnte man besser schießen. Die abgelösten Kanoniere gingen in die Häuser und legten sich schlafen.

Gussew hatte in zwei Häusern Radioempfänger entdeckt und hoffte, sie würden mit einer Batterie funktionieren. Nein, sie blieben stumm. Radio in Wohnungen - das war eine ausländische Neuheit, an die man sich nur ängstlich erst gewöhnt hatte. In der gesamten Sowjetunion hatten bei Kriegsbeginn die Empfänger abgegeben werden müssen. Nichtabgabe wurde mit Gefängnis bestraft. Und hier ...

Gussew hätte so gern etwas über unseren Durchbruch erfahren, irgendwelche Einzelheiten, aber die Batteriefunkgeräte fingen nur einen eigenen Sender auf Langwelle ein; und über den Durchbruch gab es keine Nachrichten.

Kandalinzew war schon 1941 aus der Reserve einberufen worden, hatte zwei Jahre hart an der Leningrader Front gekämpft. Nach einer Verwundung war er hierher versetzt worden und war nun auch schon fast zwei Jahre in der Brigade.

Wo es die kleinste Möglichkeit zum Ausruhen gab, ließ Oberleutnant Kandalinzew sie sich nicht entgehen. Sie gingen in die Scheune und legten sich ins Stroh. Aah, diese Stille.

"Sind die Deutschen in Ohnmacht gefallen, Pawel Petrowitsch? Sind abgeschnitten und geben auf, verdrücken sich nach Königsberg? Vielleicht ist damit der Krieg zu Ende?" Oleg Gussew hatte den Krieg durchaus nicht satt, der sollte ruhig noch dauern, damit er sich auszeichnen konnte.

"O-och!", machte Kandalinzew nur. Er lag ganz still. War er schon eingeschlafen?

Oleg sinnierte träumerisch: "Es heißt, nach dem Krieg werde alles anders werden. Dann begänne ein freies Leben, man sagt, die Kolchosen würden aufgelöst werden." Ihm selbst waren die Kolchosen gleichgültig, aber die ganze kämpfende Armee hegte derartige Hoffnungen. Und wirklich, weshalb sollte man nicht gut und frei leben?

Aber Kandalinzew wußte nur zu gut Bescheid, hatte genügend Parteisäuberungen über sich ergehen lassen müssen. Nicht rechthaberisch, nur müde, antwortete er: "Nein, Oleg, bei uns wird nichts anders werden. Wenn's bloß nicht schlechter wird. Die Kolchosen? Die löst niemand auf, sie sind dem Staat viel zu nützlich. Verschwende die Zeit nicht, schlaf jetzt."

Ja, der Krieg ist eine schwere, alltägliche Bürde mit dem Auflodern jener Tage, an denen man leicht das Leben verlieren oder verbluten kann, wenn man nicht rechtzeitig aufgesammelt wird. Doch niemals war das Herz des stillen Intellektuellen Kandalinzew im Krieg so bedrückt gewesen wie damals 1930/31, als er in einem Dorf leben mußte, das gerade zerstört wurde, als ringsum die vorsätzlich herbeigeführte böse Pest wütete.

Er sah die Augen der Sterbenden, hörte das Klagen der Frauen, das Weinen der Kinder, und ihm selbst erging es, als sei er vor dieser Pest geschützt, aber er wagte es nicht, irgendjemandem zu helfen.

Das hatte Pawel Petrowitsch gleich nach Absolvierung des Instituts erlebt. Als junger Agronom arbeitete er auf einer Obst- und Gemüseversuchsstation im Gebiet Woronesh. Er hatte für die Schößlinge der Gewächshäuser zu sorgen, als ringsum menschliche Schößlinge zwei Jahre und sogar erst drei Monate alt auf Schlitten in den harten Frost geschickt wurden, um auf dem weiten Weg zu sterben.

Er empfand sich selbst als Mörder. Er wußte, ohne sich jemandem anvertrauen zu können, daß die Bauern, die sich gegen die Kollektivierung sträubten, selbst ihr Inventar zerstörten, das beste Saatgut zu Mehl vermahlten und ihr Vieh schlachteten, ohne es zu verhehlen, und man konnte nichts dagegen tun. Schließlich kratzten die Aktivisten das letzte Korn aus den Vorratsgruben, stellten die "Rote Fuhre" zusammen und zogen in die Stadt: "Das Dorf bringt seinen Überschuß!" Und dort in der Stadt marschierte ein Blasorchester dem Wagenzug voran.

Seit dieser Zeit nahm Pawel Petrowitsch seine Umgebung nicht mehr ganz vollständig wahr, sondern irgendwie als unglaubwürdig, als seien alle Nervenenden erstarrt, sein Sehvermögen vermindert, Lachen, Geruchssinn und Tastsinn für immer dahin: So lebte er unter dem ständigen Druck, das Rayonkomitee könnte sich über ihn wegen irgendetwas erbosen, ihn als nicht vertrauenswürdigen Parteilosen aus dem Dienst entlassen. (Noch gut, wenn er dabei nicht verhaftet würde.) Und mehr als einmal war das Komitee böse geworden. Darum hatte er mit denselben starren Fingern den Aufnahmeantrag in die Partei unterschrieben, und mit denselben ertaubten Ohren saß er dann in den Parteiversammlungen.

Und welch verdrehte Ordnung verwirrte den Menschen Herz und Hirn: Abschaffung auf ewig von Woche und Sonntag, man zählt nicht mehr Montag-Mittwoch-Freitag-Sonntag, stattdessen fünf "Arbeitstage" am laufenden Band. Alle arbeiten und lernen an verschiedenen Tagen, an keinem Tag kann man mit der Frau und den Kinderchen zusammen sein. So dröhnte sein Leben wie eine unendliche Panzerkette, die die Erde aufreißt.

Und mit diesen für immer abgestorbenen Gefühlen nahm Pawel Petrowitsch im August 1941 auch seine Einberufung als Leutnant nicht vollständig wahr. Und mit diesem "nicht vollständig Vorhandensein" war er sich selbst und seinem Körper fremd, kämpfte das vierte Jahr, hatte vor Leningrad gekämpft, dann in einer Sanitätsbaracke gelegen, dann im Lazarett. Und so wie vor dem Krieg jeder Flegel aus dem Rayonkomitee ihm Anweisungen für die Zuchtauswahl geben konnte, wunderte er sich auch im Krieg nicht über die dümmsten Befehle.

Der Krieg würde bald zu Ende sein. Ob er ihn überleben würde? Auch diese Frage berührte ihn wenig. Vielleicht würde er noch umkommen, dafür blieb Zeit genug. Auch in den letzten Monaten wird noch mancher fallen müssen.

Nur ein Gefühl war in ihm nicht erstorben, das für seine junge Frau Alla. Das machte ihn traurig. Nun ja, wie Gott gibt.

*

Die Schlitten knirschten nicht. Die Pferde schnaubten kaum. Die Nacht war heller geworden. Hinter den Wolken stand der Mond, und die Wolken zogen sich auseinander. Wäldchen und freies Feld ließen sich unterscheiden.

Bojew schirmte mit dem Ärmel seines Halbpelzes die Taschenlampe ab und studierte die Karte, um den Krümmungen der Feldwege entsprechend die Stellung der Batterieführer und die jedes Beobachtungsstandes im Neuschnee festzulegen.

Also hier. Batterieführer Kassjanow und Proschtschenkow sprangen aus dem Schlitten, kamen heran.

"Entfernt euch nicht zu weit von mir, nicht mehr als einen Kilometer. Arbeit wird's kaum geben, gegen Morgen rücken wir wahrscheinlich vor. Trotzdem, für alle Fälle, grabt euch ein", befahl Bojew.

Damit trennten sie sich. Die Pferde griffen kräftig aus. Das Gelände war wenig gewellt, eine Anhöhe war nicht leicht auszuwählen. Wenn sich bis zum Morgen nichts ändert, muß man bessere Stellungen ausfindig machen.

Und noch immer kein Laut. Nichts Dunkles bewegt sich im Feld. Wen du liebst, den jagst du los. Bojew rief den findigen Ostanin: "Wanja, nimm einen Mann, geh einen Kilometer vor - welches Geländerelief? Vielleicht triffst du jemanden. Nehmt Handgranaten mit."

Ostanin mit dem kräftigen Zungenschnalzen eines aus Wjatka: "Siehst du jetzt im offenen Feld jemanden von ferne, solltest du ihn nicht rufen. Bei ,Kto eto?' kriegst du vielleicht aus der MP. Und rufst du aus Scherz ,Wer ist da?', könnten es die Eigenen tun, jederzeit." Sie gingen los. Fotsetzung folgt

Alexander Solschenizyn: Der 1918 geborene russische Schriftsteller gilt als einer der glaubwürdigsten und unermüdlichsten Kritiker der Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Sowjetreich. Foto: Archiv

Alexander Solschenizyn: "Schwenkitten '45", Langen-Müller, München 2004, geb., 205 Seiten, 19.90 Euro


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