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18.12.04 / Schwenkitten '45 Teil V / Geschichte eines Tages und einer Nacht

© Preußische Allgemeine Zeitung / 18. Dezember 2004


Schwenkitten '45 Teil V
Geschichte eines Tages und einer Nacht

Ostpreußen 1945 - Alexander Solschenizyn berichtet in seiner autobiographischen Erzählung "Schwenkitten '45" erstmals über seine Kriegserfahrungen. Die Verteidigung der Heimat bei Kursk im Sommer 1943 und der Vorstoß nach Ostpreußen im Winter 1945 sind Thema dieser deutschen Erstveröffentlichung. Mit dieser Erzählung, die nun erstmals in deutscher Sprache vorliegt, knüpft der Literaturnobelpreisträger an die großartige Prosa seines "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" an. Hier folgt nun Teil V, der bei Langen-Müller erschienenen Veröffentlichung Alexander Solschenizyns, die seit Folge 46 in der Preußischen Allgemeinen Zeitung abgedruckt wird.

 

Und hier vor Ort wurden Spitzhacke und Spaten geholt und die obersten Erdschichten abgetragen wie am Morgen für die Gräber. Die Pferde wurden ins Gebüsch geführt. Der Funker rief von seinem Gerät auf dem Schlitten aus: "Balchasch, Balchasch, hier spricht Omsk. Gib die zwölf für die zehn."

"Hier zwölf", antwortete Toplew.

"Habt ihr die ,Stöckchen' gefunden?"

"Nein, nirgendwo ,Stöckchen'", antwortete eine sehr besorgte Stimme.

Es ist, wie es ist. Wenn bei Schwenkitten noch keine Infanterie steht und auch bei uns nicht, wo ist sie dann?

"Was ist mit Ural?"

"Ural sagt: Sucht, ihr sucht schlecht."

"Wer sagt das?"

"Null fünf."

Das ist der Chef der Brigadeaufklärung, der müßte selbst hier suchen und nicht 30 Kilometer weit weg hocken. Warum bewegen sie sich nicht? Wann werden sie hier sein?

Das Graben war mühsam. Na ja, drei kleine Gräben, nicht mit vollem Profil. Zum Abdecken gibt's sowieso nichts.

Der flinke Ostanin kam früher als erwartet zurück.

"Genosse Major, halber Kilometer westlich ist eine Talsenke, verläuft offenbar rechts von uns. Ich ging nach links schräg gegenüber. Sehe Gestalten herumwimmeln. Kaum zu erkennen. Einer begann zu fluchen, seine Kabelrolle klemmte, und ich konnte hören, daß es die Unseren sind."

"Wer?"

"Der rechte Schallmeßposten. Bis zu ihnen reicht uns eine Kabelrolle und wir kriegen so direkte Verbindung mit der Zentrale. Gut."

"Also dann legen wir. Dein Kumpel soll führen."

Ja, und auf wen sich einschießen? Und mit welcher Einmessung? Alle Koordinaten sind nach Augenmaß.

"Und sonst niemand da? Keine Infanterie?"

"Auch keine Spuren im Schnee."

"Ja-ja-a-a. Hallo zwölf, zwölf! Sucht die ,Stöckchen'. Schickt nach allen Seiten Leute aus."

*

Es war etwas klarer geworden, auch das Wäldchen links vor Schwenkitten wurde deutlicher. Und rechts dunkelte ausgedehnter Wald, das war offenbar jenseits der großen Talsenke.

Der Brigadestab hatte aufgehört zu funken. Schön, wahrscheinlich sind sie losgefahren. Aber sie haben nicht vorgewarnt.

Toplew war sehr nervös. Das war er oft. Es lag ihm unendlich viel daran, daß alles tadellos funktionierte, niemand ihm etwas vorwerfen konnte. In seinem Dienst ließ er Schlampereien nicht durchgehen, noch ehe die Vorgesetzten sie hätten bemerken und rügen können, aber oft weiß man nicht, was das Richtige zu tun ist.

Und jetzt fand er keine Ruhe: Die Sicherung ist zu kontrollieren, ebenso die Kanonen der 4. und 5. Batterie. Von jeder Geschützbedienung haben zwei Mann Dienst. Die übrigen haben sich in die Häuser verzogen. Essen Abendbrot? Essen ist vorhanden. Kleiden sie sich ein? Auch das ist möglich, und alles wird im Batterieanhänger verstaut. (Im Dorf sind ein paar alte Männer und Frauen zurückgeblieben, wagen nicht, sich zu rühren.)

Es ist einfach ein Unding, daß erlaubt wurde, aus Deutschland Pakete nach Hause zu schicken. Jetzt quillt bei jedem Soldaten der Tornister über. Manche Sachen behält er, manche wirft er fort. Für seine fünf Kilo sucht er das Beste raus. Toplew ist das zwar verständlich, aber sehr zuwider, denn es stört die Arbeit.

Er ging zum Stabswagen der Abteilung am Ortsrand von Klein Schwenkitten. Im Häuschen daneben gibt's ein Bett mit Daunendecke, da könnte man sich niederlegen und schlafen, es ist ja schon Mitternacht. Kann man denn hier einschlafen?

Hinter den Wolken ist es hell. Draußen ist es friedlich und still, als gäbe es keinen Krieg.

Und wenn jetzt von Osten etwas herankriechen würde - was wäre da zu tun? Unsere Geschosse wiegen bis zu 40 Kilo. Heranbringen und Nachladen von Schuß zu Schuß dauert niemals weniger als eine Minute, sie wegzuschaffen ist keine Zeit: Acht Tonnen wiegt eine Haubitze. Wenn da noch andere Rohre aufblitzen würden - von der Abteilung oder Panzerabwehr. Niemand.

Im Stabswagen wieder am Funkgerät, meldet Toplew Major Bojew: "Verbindung mit Ural abgerissen. Keine ,Stöckchen'. Ich habe Leute auf die Suche geschickt."

Ein zur Erkundung ausgeschickter Unteroffizier hat seinen Auftrag ausgeführt und meldet: Auf dem Weg hierher leichtes Geräusch von einem Willys. Wer da nahte, war bis zuletzt nicht zu erkennen.

Aus dem Willys sprang flott Major Balujew.

Toplew meldete ihm: "Feuerstellungen der Schweren Artillerieabteilung."

Der Major, mit fester, junger Stimme, ist erfreut: "Was sagen Sie da? Was? Die Schwere? Das hätte ich nicht erwartet!"

Sie gingen ins Haus, ans Licht. Der Major ist mager, sauber rasiert, aber offensichtlich erschöpft. "Das ist etwas zu fabelhaft! Wir hätten gerne etwas Leichteres."

Balujew erwies sich als Regimentskommandeur jenes Schützenregiments aus eben der Division, die sie suchten. Auch Toplew freute sich: "Prachtvoll! Jetzt kommt alles in Ordnung."

Nicht ganz. Einstweilen marschiert nur das 1. Bataillon hierher - wird erst weit nach Mitternacht hier sein.

Sie setzten sich zur Petroleumlampe und studierten die Karte. Toplew zeigte, wo unsere Beobachter sein werden. Und dort, in Dittrichsdorf, befindet sich die Schallmeßbatterie. Weitere Einheiten sind bisher nicht aufgetaucht.

Der Major, mit verrutschter Mütze auf den flachsblonden Haaren, hat sich mit saugendem Blick in die Karte vertieft.

Er war jetzt keineswegs fröhlich. Er starrte und starrte in die Karte. Nicht mit dem Bleistift, mit dem Finger verfolgte er die Linie: Wo, vorgeschoben, die Beobachter stehen müssen und wo die Infanterie Stellung beziehen muß.

Balujew öffnete die Kartentasche, schrieb einen Befehl und gab ihn dem Oberfeldwebel, der ihn begleitet hatte: "Bring das dem Stabschef. Nimm das Fahrzeug. Wenn dir unterwegs irgendwas auf Rädern begegnet, versuch es anzuhalten. Und wenn es auch nur eine einzige Kompanie ist, die vorgeschickt werden kann."

Zwei Aufklärer behielt Balujew bei sich. "Ich gehe zum Kommandeur eurer Abteilung."

Toplew begleitete den Major vorsorglich nach Schwenkitten. Am Ende des Dorfes sagte er: "Jetzt können Sie direkt in dieser Schlittenspur gehen." Sie war deutlich unter den Füßen zu sehen.

Es wurde hell. Der Mond war herausgekommen.

*

Nach einer leichten Verwundung am Sosh war Major Balujew zu den Jahreskursen an der Frunse-Akademie abgestellt worden. Damit drohte ihm, den Krieg zu verpassen; doch er kam noch rechtzeitig in den Stab der 2. Weißrussischen Front, gerade zur Januaroffensive.

Dort beorderte man ihn zum Armeestab, von da aus zum Korpsstab und jetzt in den Divisionsstab.

Den fand er erst heute. Nein, man muß schon besser sagen: gestern. Die Division hatte am Vortag den Kommandeur eines Schützenregiments verloren - schon den dritten seit dem Herbst. Also wird Major Balujew ihn ersetzen, den Befehl unterschreibt man später.

Balujews Gespräch mit dem Divisionskommandeur dauerte nur fünf Minuten, das genügt für einen erfahrenen Offizier. Die topographische Karte kann dieser kaum lesen, das ist aus zwei Fehlern und aus den Fingerbewegungen auf der Karte ersichtlich. Und begreift er überhaupt die Gesamtsituation? Er murmelt undeutlich vor sich hin. Wen befördert man bei uns nicht alles zum General? Hinzu kommt noch die verbindliche Quote der nationalen Kader, die das Gleichgewicht der Präsenz der nationalen Minderheiten vorschreibt.

Nach der akademischen Organisation des theoretischen Krieges nun plötzlich in die Praxis geworfen zu werden, ist etwas verwirrend. Man ist entwöhnt, muß erst mal Mut fassen.

Einiges über die Lage hatte Balujew schon in der Operationsabteilung der Armee begriffen. Seit 1944 rücken unsere Soldaten nur noch vor, unaufhaltsam! Mit einer glänzenden, schönen, siegreichen Dreistigkeit! Mit ihr sind wir in Ostpreußen eingefallen. Schon blieb die Etappe zurück. Schon blieb die Infanterie zurück, und schon rollt die 5. Panzerarmee, rollt und rollt, ist schon an der Ostsee. Ein hinreißendes, wundervolles Ergebnis.

Allerdings - der Schwung eines solchen Wurfs hat zur Folge, daß auf eine Division nun statt der gewöhnlichen drei bis fünf Kilometer Front plötzlich 40 Kilometer kommen. Du mußt das Regiment auseinander ziehen. Und dann versuch mal, ein paar 76er-Kanonen anzufordern!

Das ist nun einmal so: Eine Armee im Vormarsch ist eine sehr veränderliche Konstruktion, bald erstarrt sie 24 Stunden lang zu Marmor, bald verschwindet sie innerhalb von zwei Stunden wie ein Phantom. Dafür bist du Kaderoffizier, dafür hast du einen Akademielehrgang absolviert.

Und diese stürmische Unberechenbarkeit, Widerborstigkeit, Angespanntheit beschert dem Krieger ein Hochgefühl.

*

Es wurde heller, und gegen ein Uhr war der Himmel klar. Aber es war noch nicht Vollmond, der Mond würde nicht die ganze Nacht bleiben. Mit dem fehlenden linken Horn neigte er sich schon nach Westen, schwamm malerisch hinter den Wolken, bald klarer, bald verschwommen.

Heller oder nicht, mit dem Feldstecher konnte man nicht weit auf das Schneefeld sehen, nur daß es oberhalb der Senke vermutlich leer war. Aber auch in den kleinen, hie und da abgegrenzten Waldstücken könnten sie sich sammeln.

Der Mond hatte über Pawel Bojew von Jugend auf eine eigenartige Macht besessen, und das für immer. Schon den Heranwachsenden zwang er anzuhalten, sich hinzusetzen oder zu legen und den Mond unentwegt anzuschauen, über das Leben nachzudenken, wie es für ihn sein wird. Über Mädchen, welches es wohl werden wird.

Obwohl er kräftig, stark, ein hervorragender Turner war, hatte er bei Mädchen kein Glück. Er zerbrach sich den Kopf: Weshalb? Nun ja, hübsch war er nicht, Lippen und Nase waren nicht edel geformt. Aber muß denn ein Mann schön sein? Schönheit ist was für Frauen, wenn auch nicht das Wichtigste. Pawel Bojew erstarb geradezu vor jeder Frau, neigte sich ehrfürchtig vor ihrer Zartheit und Zerbrechlichkeit, fürchtete sich, ihnen wehzutun, sie allein schon mit seinem Atem zu versengen. Vielleicht deswegen hatte er vor dem Krieg noch nicht geheiratet. (Nur Tanja, die Krankenschwester, erklärte später: "So ein Dummkopf! Wir mögen es doch, wenn einer ordentlich zulangt.")

Der Mond stand schon hinter Bojews Rücken. Er schaute hinauf, wieder hatten ihn Wolken verdeckt.

Nach wie vor kein Laut. Die Deutschen haben wir gehörig gejagt.

Fortsetzung folgt

 

Alexander Solschenizyn: Der 1918 geborene russische Schriftsteller gilt als einer der glaubwürdigsten und unermüdlichsten Kritiker der Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Sowjetreich. Foto: Archiv

Alexander Solschenizyn: "Schwenkitten '45", Langen-Müller, München 2004, geb., 205 Seiten, 19,90 Euro


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