Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
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Preußische Allgemeine Zeitung / 25. Dezember 2004
Erstaunt und beunruhigt über die deutsche nationale Selbstverachtung sei er,
sagte kürzlich der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg, kein konservativer,
wohl eher ein linksliberaler Intellektueller. Daß bei den Deutschen einiges
nicht in Ordnung ist, daß ihnen etwas fehlt, zeigt auch die erneute Debatte um
deutsche Identität und Interessen sowie Patriotismus. Wenn daraus mehr werden
soll als nur jene sattsam bekannten unverbindlich-seichten Talkshows, ist
freilich ein Nachdenken über den tiefgreifenden kulturrevolutionären Umbruch in
Deutschland
seit den 60er Jahren notwendig, der zu einer unübersehbaren Erosion unserer
historisch-kulturellen Fundamente geführt hat.
Die Auseinandersetzung mit den Ursachen und Wurzeln der totalitären Diktatur
Hitlers hatte, entgegen den Behauptungen der 68er, schon unmittelbar nach ihrem
katastrophischen Untergang begonnen. Schon 1946 erschien zum Beispiel das Buch
Eugen Kogons „Der SS-Staat“. Die in den 50er Jahren prägenden Historiker, Hans
Rothfels in Tübingen, Gerhard Ritter und dann Arnold Bergstraesser in Freiburg,
Franz Schnabel in München und später Heinz-Dietrich Ortlieb in Hamburg,
betrieben in Forschung und Lehre nichts anderes. Im Gegensatz zu den
Nachkommenden wehrten sie freilich die Leidenschaften des Parteienstreits, der
politischen Ressentiments und Propaganda ab und ging es ihnen um die
Vollständigkeit der geschichtlichen Tatsachen „in ihrer wechselseitigen
Beziehung und Durchdringung“. Rothfels sprach von der „Anmaßung eines
Richteramtes, die mit einer gewissen Robustheit des Gewissens und einem guten
Teil Selbstgefälligkeit einem Volk allein die Schuld beimessen oder ein Urteil
über das Maß seiner moralischen ,Rehabilitierung‘ fällen will“. Hier ging es bei
aller entschiedenen Kritik des nationalsozialistischen Totalitarismus doch auch
darum, die für unerläßlich erachteten Elemente der nationalen Überlieferung
nicht preiszugeben.
Der Geschichtspolitik und „Vergangenheitsbewältigung“ seit den 60er Jahren ging
es dagegen um ganz anderes. Die NS-Vergangenheit sollte unbedingt „Gegenwart“
bleiben als dunkle Folie für den unaufhaltsamen Fortschritt zu Freiheit und
Gleichheit. Zugleich sollte sie auch in die Vergangenheit hinein verlängert
werden: zu Bismarck, zum preußischen angeblichen Obrigkeitsstaat, zu Friedrich
dem Großen und bis zur „Gehorsamspredigt“ Martin Luthers, um nicht nur die
nationalsozialistischen Wurzeln auszureißen, sondern deutsche Geschichte und
Tradition insgesamt umzupflügen für die tabula rasa einer sozialistischen
Zukunftsgesellschaft. Zielpunkt war die endgültige Überwindung der angeblich
deutschen „autoritären Persönlichkeit“ durch den „neuen Menschen“ der
neomarxistischen Zukunft, wie sie Theodor W. Adorno der begierig lauschenden
Studentenbewegung verkündete. Und so durfte sich niemand wundern, wenn ein
bestimmtes Publikum, etwa in deutschen Universitätsstädten, Daniel Goldhagens
Thesen von der antisemitisch verdorbenen deutschen Genetik und den „willigen
Vollstreckern“ Hitlers frenetisch und kritiklos feierte. Es drängte sich förmlich
die Erinnerung an Leo Trotzki auf, der 1917 seine politischen Gegner mitsamt
allem historisch Gewachsenen bekanntermaßen „auf den Müllhaufen der Geschichte“
hatte werfen wollen. In der Tat erinnerte auch vieles in dieser 68er
Kulturrevolution an Hitlers „zynische Mißachtung geronnener historischer
Strukturen“ und an den „ahistorischen Grundzug seines chiliastischen
Geschichtsverständnisses“ (Hans Mommsen). Das Ergebnis dieser Umerziehung durch
die Geschichtspolitik der 68er Kulturrevolution war, daß sich die Deutschen nun
ihre 1.000jährige Geschichte verstellen ließen durch den braunen Koloß der
NS-Zeit, daß man die deutsche Geschichte gleichsam eindampfte auf jene
berüchtigten zwölf Jahre, wenn nicht gleich gar nur auf den Holocaust. Das war
nicht mehr reale Geschichte, sondern eine extreme Geschichtsmythologie als
Herrschaftsinstrument. Und die weitere Folge war, daß Deutschland und die Deutschen zu
jener „Canossarepublik“ wurden, wie sie der Präsident Estlands, Lennart Meri,
bei seiner Rede zur deutschen Einheit am 3. Oktober 1995 in Berlin nannte, eine
Republik, in der „rund um die Uhr eine intellektuelle Selbstverachtung
praktiziert“ wird, wie der den Deutschen wohlwollende Präsident hinzufügte, in
einem Klima, in dem „die Deutschen ihre eigene Geschichte so tabuisieren, daß es
enorm schwierig ist, über das Unrecht zu publizieren und zu diskutieren, das
Deutschen angetan wurde, ohne schief angesehen zu werden – aber nicht von Esten
und Finnen, sondern von Deutschen selbst“. Die vorausgegangene
Geschichtsberaubung und einseitig „antifaschistische“ Geschichtsmythologie
reduzierte die Deutschen und ihre sogenannten Eliten auf eine allen Einflüssen
gegenüber willfährige „Bevölkerung“, der man heute selbst die gegen ihren Willen
und ihre Interessen stattfindende Masseneinwanderung als „Bereicherung“ und die
multikulturelle Gesellschaft als die eigentliche Demokratie für „alle Menschen“
zu preisen wagen kann.
Wir sind damit in eine neue Phase der Kulturrevolution eingetreten, die die
totalitäre Idee des „neuen Menschen“ und einer „neuen Gesellschaft“ in die
Gewänder der Globalisierung hüllt. Im Bündnis der turbokapitalistischen Chicago
Boys mit den „antifaschistischen“ Jakobinern von 1968 wird die multikulturelle
Weltgesellschaft zur neuen großen Utopie, der die Zivilreligion des
„Antirassismus“ als verbindliches Dogma und als massives Sanktionsinstrument zur
Seite tritt, insgesamt ein neuer politischer Messianismus mit den bekannten
totalitären Trends, wie sie Hans Freyer einst als die Machbarkeit der Sachen,
die Organisierbarkeit der Arbeit, die Zivilisierbarkeit des Menschen und die
Vollendbarkeit der Geschichte gültig beschrieb. Dieser universalistische
Anspruch wird zum Todfeind der wahren Freiheit, die nur plural sein kann, zum
Feind aller wirklichen Vielfalt und der gewachsenen Eigengestalt der Kulturen,
Religionen, Ethnien und er dient den herrschenden Kommandohöhen in Wirtschaft,
Politik, Kultur, Medien zur, freilich durchsichtigen, Legitimation für weltweite
Migrationen und Einwanderungen nach den Maßstäben ihrer strategischen
Interessen. Mit untrüglichem Instinkt hat Helmut Schmidt vor kurzem diese
Einwanderungspolitik das „Lieblingskind der privilegierten politischen und
kulturellen Klassen“ genannt, die ihre Multikulti-Utopie zu Lasten und auf
Kosten der breiten Schichten der eigenen Bevölkerung auf Biegen und Brechen
durchzusetzen versuchen.
Es wäre an der Zeit, angesichts dieser für die Menschheit bedrohlichen Lage
wieder einmal Max Webers klassisch gewordenen Vortrag „Der Beruf zur Politik“
zur Kenntnis zu nehmen, den der große Soziologe im Januar 1919 inmitten der
damaligen Umbruchsituation hielt und in dem er die beiden Weisen politischen
Denkens und Handelns umriß: Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Der
Gesinnungsethiker, so sagte Weber dort, geht, von der Güte und Vollkommenheit
des Menschen und der Welt aus; als „ethischer Rationalist“ könne er die ethische
Irrationalität der Welt nicht ertragen und er fühle sich verantwortlich dafür,
„daß die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme zum Beispiel des Protestes
gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt“. Aber eben der
Gesinnungsethiker könne rasch umschlagen in den chiliastischen Propheten, der
soeben noch „Liebe gegen Gewalt“ predigte, um im nächsten Augenblick zur Gewalt
aufzurufen, die dann natürlich die letzte Gewalt sein soll zur endgültigen
Vernichtung aller Gewalt. Der verantwortungsethisch Handelnde weiß hingegen,
„daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat“ und er rechnet mit den
durchschnittlichen Defekten der Menschen, mit ihrem Mangel an Vollkommenheit,
Güte und Rationalität. Wird Gesinnungsethik in der Politik vorwiegend getragen
von Wünschen, Wünschbarkeiten und Idealen, von der Utopie, so wird
Verantwortungsethik geprägt von Wirklichkeitssinn, von den realen Interessen der
Betroffenen und der Akteure, im internationalen Bereich von der „Korrelation der
Kräfte“, die zu kalkulieren die zentrale Aufgabe ist, um dann auch, soweit
menschenmöglich, die voraussehbaren Folgen der Entscheidungen kalkulieren zu
können. Politische Verantwortungsethik denkt und handelt daher auch stets
geschichtlich, in der Verantwortung von denen, die vor uns waren, und vor denen,
die nach uns kommen. Da die politischen Klassen unserer Tage von einer
atemberaubenden Geschichtsunkenntnis gekennzeichnet sind, hat ihr
Geschichtsverlust jenen politischen Realitätsverlust zur Folge, den wir als
beängstigendes Faktum am Beginn des neuen Jahrhunderts konstatieren müssen.
Gerade die heutige Einwanderungspolitik – besonders in Deutschland – wird zum
klassischen Beleg des Geschichts- und Verantwortungsverlusts in den
Führungsklassen, des gravierenden Unvermögens, langfristige Perspektiven
überhaupt zu erkennen und durchzuhalten. Sie werden verdeckt durch Kurzatmigkeit
und Augenblicksentscheidungen, Medienabhängigkeit und das Schielen nach den
rasch wechselnden Stimmungslagen der Massen bis hin zu ihrem „Nach uns die
Sintflut“.
Gerade in der heutigen deutschen Situation kann nur ein Paradigmenwechsel
helfen, nicht zuletzt in der Ausländer- und Einwanderungspolitik. Das beginnt –
schwierig genug nach dem kulturrevolutionären Prozeß der letzten Jahrzehnte –
mit dem kollektiven Bewußtsein und der Gestimmtheit in der Gesellschaft selbst,
ihrem Geschichtsverlust und der daraus rührenden Selbstverachtung bis hin zu
neuroseartigem Kollektivschuldbewußtsein, das die Kräfte von außen geradezu
ansaugen muß. Hier ist ernsthafte Vergegenwärtigung der eigenen Identität, die
aus der kritisch angeeigneten eigenen Geschichte zu gewinnen ist, und den daraus
abzuleitenden eigenen Interessen gewissermaßen der Elementarkurs für den
erforderlichen Paradigmenwechsel. Geboten ist damit vor allem eine gründliche
Aufarbeitung der zurück-liegenden 30 bis 40 Jahre der deutschen
Kulturrevolution, ihrer Ursachen und Folgen mit dem Ziel, wieder zu einer
relativen Normalität der Deutschen als Nation unter Nationen zu finden, zu einem
neuen Gleichgewicht, einer Mittellage zwischen „Machtversessenheit und
Machvergessenheit“ – gewiß mehr Konrad Adenauer, Helmut Schmidt und Helmut Kohl
(aber nicht mit seiner Innenpolitik) als Schröder und Fischer, insgesamt eine
geschichtsgestützte Realpolitik, die der gesinnungsethischen Geschichts- und
Nationsvergessenheit entgegentritt, die die Deutschen nach dem Abgang Konrad
Adenauers so verhängnisvoll prägte und in die Irre führte. Um aus den Fehlwegen
und Sackgassen, in die die Kulturrevolution seit 1968 die deutsche Gesellschaft
und Politik geführt hat, herauszukommen, bedarf es einer gründlichen Kenntnis
und Erkenntnis der Ursachen dieser Entwicklung. Es erscheint dringend notwendig,
der kulturell-politischen Hegemonie der 68er Bewegung entschiedener als bisher
entgegenzutreten, um anstelle der gesinnungsethischen Utopie mit ihrer
verbreiteten Nicht-Kalkulation der Folgen einer verantwortungsethischen, an der
Wirklichkeit orientierten Politik im Inneren wie nach außen wieder Raum zu
schaffen. Die Einwanderungs- und Ausländerpolitik wird hier, ob man will oder
nicht, zum wohl wichtigsten Prüfstein. Und das eine ist sicher: Ohne Mut wird es
dabei nicht gehen. Die neudeutsche Neigung zum Frieden um jeden Preis, zum
Wegsehen, zur Konfliktvermeidung, zum Gutmenschentum, koste es was es wolle,
bietet hier keinen verläßlichen Kompaß und erzeugt gerade die Konflikte, die das
Denken und Handeln nur für heute und für den Augenblick vermeiden will, die es
aber um so sicherer und verhängnisvoller auf längere Sicht gerade herbeiruft.
Verantwortungsethische Politik ist vor allem deshalb realistischer und humaner
als gesinnungsethische Kurzsichtigkeit, weil sie herannahende Konflikte
rechtzeitig sieht und zu entschärfen sucht, ehe sie sich zu unlösbaren
Katastrophen zusammenballen. Eben diese Wetterwand zieht aber, allen
Vernünftigen sichtbar, heute mit der gegenwärtigen Politik der ungebremsten
Zuwanderung nach Europa und Deutschland herauf. Sie zu ignorieren ist das
schlimmste Signal der Verantwortungslosigkeit der Volks- und Realitätsferne
heutiger Politik.
Die eigenen Opfer werden verdrängt: Gedenkplatte an den Gräbern der Gedenkstätte
für Opfer des Speziallagers Jamlitz, das 1945 von der Roten Armee auf dem
Gelände des vormaligen KZ Lieberose nördlich von Cottbus als Flüchtlings- und
Internierungslager genutzt wurde. In dem Lager verloren ab 1945 weit über 3.000
Menschen ihr Leben. Foto: ddp |