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Preußische Allgemeine Zeitung / 25. Dezember 2004
Jedermann weiß, laut Strafgesetzbuch ist „Betrug“ strafbar. Doch bezieht sich
dies nur auf Dritte. Von „Selbst“betrug erwähnt der Gesetzgeber kein Wort.
Allerdings stellt sich auch die Frage, ob die Person, die sich selbst betrügt,
sich dessen überhaupt bewußt ist.
Nur wie lautet eigentlich die genaue Definition, wo hört das
„Sich-etwas-schön-reden“, das „Verharmlosen“ von Tatsachen auf, wo beginnt der
Tatbestand des Selbstbetruges?
Eine Frage, die sich Deutschlehrer Joachim Linde, die Hauptfigur in Jakob
Arjounis Roman „Hausaufgaben“, anscheinend noch nie gestellt hat. Dieser
versteht es nämlich auf vortreffliche Art und Weise, die Realität immer aus dem
Winkel zu betrachten, der ihm gerade in den Kram paßt.
Er ist sich durchaus dessen bewußt, daß seine Frau Ingrid unter starken
Depressionen leidet und daß seine mittlerweile dem Teenageralter entwachsene
Tochter Martina, die – am Rande erwähnt – bereits einen Selbstmordversuch hinter
sich hat, ohne eine Nachricht zu hinterlassen zu ihrem Freund nach Mailand
entschwunden ist. Trotzdem hört Linde nie auf, davon zu reden, daß seine
„kleine“ Tochter irgendwann reuig vor seiner Tür stehen und ihren weisen,
vergebenden Vater für ihre Dummheit um Entschuldigung bitten wird. Doch das
Schicksal zieht ihm einen gehörigen Strich durch die Rechnung.
Eines Tages, nachdem er seine Frau just wieder aufgrund eines Anfalles starker
Depressionen in der Klinik abgeliefert hat, klingelt es an der Haustür. „Als er
die Tür aufzog, stand ein junger Mann in Anzughose und T-Shirt vor ihm. Er trug
eine verspiegelte Sonnenbrille und hatte eine tätowierte Rose auf dem Arm … ,Ich
bin der Freund von Martina und gekommen, um ihre Sachen zu holen.‘“
Während Martinas Freund, Moritz, in deren altem Kinderzimmer rumort, sitzt Linde
empört auf der Couch. Innerlich beschimpft er den Fremden als „Hallodri“,
„Gesocks“ und „Halunken“. Er erinnert sich zurück an seine unschuldige süße
„Tatütata“, als sie noch ein kleines Mädchen war, und kann nicht fassen, was in
diesem Moment in seinem Hause geschieht.
Als Linde sich weigert, beim Zusammenpacken von Martinas Sachen zu helfen, wird
Moritz direkter: „,Oje Herr Linde‘, der junge Mann seufzte. ,Sie sind ja noch
ekelhafter, als Martina sie beschrieben hat!‘“, und er erinnert Linde an ein
bestimmtes Ereignis aus dessen Vergangenheit, das dem Lehrer vor Empörung schier
den Atem raubt.
Aber damit nicht genug. Kaum, daß Moritz verschwunden ist und Linde sich gerade
seine Welt wieder so hingebogen hat, wie es ihm schmeckt, kommt sein 16jähriger
Sohn Pablo nach Hause. Doch anders als gewöhnlich hat der ruhige, sich bei
amnesty international engagierende Junge einmal ein ganz anderes Thema. Starr
vor Schreck lauscht der Vater wehrlos den Anschuldigungen seines Sohnes, ehe
dieser vor Wut polternd das Haus verläßt und mit Lindes Auto davonbraust. Einige
Stunden später erhält Linde die Nachricht, daß Pablo verunglückt sei und im Koma
liege.
Wie es Lehrer Linde letztendlich gelingt, sich „gedanklich“ aus seiner privaten
Misere zu befreien, und es nebenbei noch meistert, auf einer Schulkonferenz den
Vorwurf, ein „kleiner feiger antisemitischer Scheißer“ zu sein, elegant
abzuschmettern und die Sympathien auf seine Seite zu ziehen, ist ebenso amüsant
wie erstaunlich.
„Hausaufgaben“ ist ein psychologisch geschickt aufgebauter Roman, der den Leser
immer wieder Vermutungen über die Person Joachim Linde anstellen läßt. Schuldig
im Sinne der Anklage oder armes Unschuldslamm?
Bis zum Ende des Buches bleibt offen, was in der Vergangenheit der Familie Linde
dazu geführt hat, daß die Zusammengehörigkeit letztendlich zerbrochen ist und
einzelne Familienmitglieder mit einem mehr oder minderschweren Knacks davon
gekommen sind. Kurz und knackig! A. Ney
Jakob Arjouni: „Hausaufgaben“, Diogenes Verlag, Zürich 2004, geb., 189 Seiten,
17,90 Euro |