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25.12.04 / Befreiung oder Niederlage oder was? / Gegen die Verballhornung der 8.-Mai-Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard

© Preußische Allgemeine Zeitung / 25. Dezember 2004


Befreiung oder Niederlage oder was?
Gegen die Verballhornung der 8.-Mai-Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (Teil I)
von Gerd Schultze-Rhonhof

Am 28. April dieses Jahres haben 30 Bundestagsabgeordnete der SPD und von Bündnis 90 / Die Grünen dem Hohen Hause den folgenden Antrag vorgelegt: „Der Bundestag wolle beschließen: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung, die Regierungen der Länder und die Bürger des Landes auf, den bevorstehenden 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs im Jahr 2005 in angemessener Weise zu würdigen und zum Anlaß zu nehmen, insbesondere in der jüngeren Generation das Bewußtsein über die Ursachen, die Geschichte und die Folgen des Krieges zu schärfen. Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung …“

Die Preußische Allgemeine Zeitung / Das Ostpreußenblatt will dieser Aufforderung gerne folgen und versuchen, mit der mit dieser Folge beginnenden Serie insbesondere in der jüngeren Generation das Bewußtsein für die Ursachen des Krieges zu schärfen.

Das Thema „8. Mai, Tag der Befreiung“ hat unser damaliger Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor knapp 20 Jahren in seiner bemerkenswerten Rede zum 8. Mai 1985 in sehr ausgewogener Weise schon behandelt. Auch wenn die zwei Formulierungen von der „Befreiung“ und der „erzwungenen Wanderschaft von Millionen Deutschen nach Westen“ viele Betroffene in unserem Lande tief verletzt haben, so macht gerade die sehr ausführliche Behandlung der Schattenseiten dieses 8. Mai in seiner Rede deutlich, was der Tag für die große Mehrheit der Deutschen damals in der Realität bedeutet hat: Leid um die Toten, Leid durch Verwundung und Verstümmelung sowie durch die grauenhaften Bombennächte. Für Millionen von Deutschen kamen die Vertreibung unter brutalsten Gewaltanwendungen, Vergewaltigungen, Folter, Not sowie der Verlust von Heimat und Lebenswerk hinzu. Von Weizsäcker spricht dieses alles ohne Schonung an. Er stellt dem das Leid der Opfer der NS-Herrschaft gegenüber und stellt heraus, daß Deutschland an diesem Tage vom Nationalsozialismus befreit worden ist. So bleibt der 8. Mai für ihn ein Tag mit zwei Gesichtern. Das eine ist die Niederlage, das andere die Befreiung der Opfer und des ganzen Volks von einer Ideologie.

Von dieser Rede ist nach 20 Jahren offensichtlich nur noch ein kleiner Teil im kollektiven Gedächtnis unseres Volks erhalten, nämlich die Befreiung. Das aber ist eine Verballhornung dieser Rede und eine Perversion dessen, was sich vor 60 und mehr Jahren zugetragen hat.

Wir können uns heute glücklich schätzen, in einer Demokratie zu leben. Dennoch ist es nicht angemessen, der Generation, die die Kriegs- und Vorkriegszeit erlebt hat, einzureden, sie sei damals befreit worden. Das deutsche Volk von 1945 hat sich in seiner Mehrheit damals nicht befreit gefühlt, auch wenn seine nachgeborene Generation ihre politischen Freiheiten heute als Segen und Geschenk empfindet.

Die Deutschen jener Zeit hatten andere und zum Teil zutreffendere Kenntnisse über die Vorgeschichte und den Ablauf des Zweiten Weltkriegs als der normale Deutsche heute. Sie wußten, daß sie einen Krieg verloren hatten, der seinen Ursprung im Unfrieden der europäischen Völker in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts hatte, also noch vor dem Ersten Weltkrieg. Hitler war für sie der Katalysator, der diese Spannungen, statt sie zu kontrollieren, zum Schluß zum Sieden hatte kommen lassen. Das Volk von 1945 wußte noch, was sich in Europa nach 1920 und vor 1933 – und auch vor 1939 – an Kriegen, Rüstungswettläufen, internationalen Vertragsbrüchen und Mißachtungen des Völkerbundes außerhalb des Deutschen Reiches abgespielt hatte, Fakten, die heutige Historiker in Deutschland meistens übergehen. Man muß vergangene Zeiten aus sich selbst heraus erklären. Richard von Weizsäcker sagte deshalb in seiner Rede richtigerweise: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern.“

Nur weil „Befreiung“ in die politischen Reden des Jahres 2005 besser paßt als „Niederlage“ und nur weil es Meinungen in dieser Richtung gibt, sollte man nicht an der Oberfläche bleiben. Der Deutsche Bundestag sollte in einer Debatte zu der Frage, ob wir am 8. Mai an die Niederlage oder an die Befreiung denken sollten – oder auch an beides – nach dem Kenntnisstand der Bürger 1939 fragen. Das wird klären, ob die Deutschen 1945 in ihrer Niederlage auch die Befreiung sehen konnten.

Ehe wir auf die historischen Ursachen dieser Niederlage beziehungsweise der Befreiung eingehen, sei eine übergeordnete Betrachtung erlaubt. Ansichten über die eigene Geschichte haben historische, politische und massenpsychologische Dimensionen. Die historische wird Thema dieser Serie sein. Die politische wird demnächst den Deutschen Bundestag bewegen. Die massenpsychologische steht jenseits der zwei erstgenannten. Sie hat – und das gibt ihr heute ein besonderes Gewicht – die am weitesten reichenden Konsequenzen.

Das Geschichtsbild eines Volkes ist ein sehr wichtiger Teil seiner Selbstwahrnehmung. Aus der 1.100jährigen Geschichte deutscher Staatlichkeit wird heute fast nur noch die Erinnerung an die zwölfeinhalb Jahre des Dritten Reiches wachgehalten. Diese Zeit verdrängt fast alle anderen Geschichtserinnerungen aus dem kollektiven Gedächtnis unseres Volkes. Es wirkt so, als gäbe es einen politischen Alleinvertretungsanspruch der NS-Jahre in der deutschen Publizistik und der Schulausbildung. Die Mehrzahl aller Deutschen erlebt die eigene Vergangenheit auf diese Weise als überwiegend verbrecherisch belastet. Dies hat das deutsche Selbstwertgefühl in einer Radikalität zerstört, daß uns nur noch die Selbstverachtung bleibt.

In einer solchen „nationalen Seelenlage“ können weder Solidaritätsgefühle miteinander noch Opferbereitschaft füreinander, schon gar kein Patriotismus wachsen, auf dessen verbliebene Reste der Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Oppositionsführerin Angela Merkel und auch der Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement hoffen. Die Liebe zum eigenen Land und Volk ist abgestorben. Den Vorstellungen vom deutschen Volk, deutschen Staat und deutschen Land ist inzwischen jeder ideelle Wert entzogen. Wen wundert es da, daß jährlich große Zahlen deutscher Leistungsträger auswandern, daß Bankhäuser und Industrieunternehmen sich nicht mehr für ihr „Mutterland“ engagieren, und daß unsere Zuwanderer sich in ihrer Mehrheit nicht mit dieser „verbrecherischen“ deutschen Identität belasten wollen und unter anderem auch deshalb große Integrationsschwierigkeiten haben. Wer will sich schon mit einem Gastvolk identifizieren, das sich selbst so wenig liebt und achtet. Wir stecken – wie man daran sieht – mit unserer Geschichtswahrnehmung in einer psychologischen Sackgasse.

Politiker, Publizisten und Pädagogen sollten nicht verkennen, daß sie mit ihrer einseitigen Betonung der „Befeiung“ eine Deutung von Geschichte fördern, in der die Rollen von Befreiten und Befreiern und im Gefolge dessen von Schuldigen und Schuldlosen am Zweiten Weltkrieg eindeutig festgelegt sind. Je länger dieses simple, aber nicht ganz richtige Bild vermittelt wird, desto kranker wird die deutsche „Seele“.

Abgesehen davon, daß die späteren Sieger schon 1943 die bedingungslose Unterwerfung Deutschlands als ihr Kriegsziel deklarierten, und abgesehen davon, daß das US-Oberkommando zu Kriegsende erklärte, Deutschland werde nicht zum Zwecke der Befreiung, sondern als besiegte Feindmacht besetzt, hält die einfache Verteilung von Schuld und Unschuld am Entstehen dieses Krieges angesichts der Akten- und Dokumentenlage keiner Untersuchung stand. Die amtlichen Dokumente der damals beteiligten Außenministerien sowie die Notizen und Memoiren britischer, französischer, belgischer, italienischer und US-amerikanischer Regierungschefs, Minister, Diplomaten und Armeeoberbefehlshaber aus den 20er und 30er Jahren belegen vielmehr, daß es außer Deutschland eine ganze Anzahl von Staaten und Regierungen war, die den Zweiten Weltkrieg mit verursacht hat.

Der Schweizer Historiker Sascha Zala schrieb in seinem Buch „Die legitimatorische Funktion der Geschichtsschreibung, Geschichte im Sinne der Machteliten darzustellen“, daß die deutschen Historiker nach 1945 die Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg von vornherein und uni sono allein Hitler und damit den Deutschen zugeordnet hätten. So seien deutsche wissenschaftliche Untersuchungen zur Mitschuld ausländischer Regierungen unterblieben. Wenn man das Standardwerk des Militärgeschichtlichen Forschungsamts „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ und andere deutsche Geschichtsarbeiten liest, findet man die Beobachtung des Schweizer Historikers bestätigt.

Der ehemalige israelische Botschafter in Bonn Asher ben Nathan hat einmal in einem Interview auf die Frage, wer denn 1967 den Sechs-Tage-Krieg begonnen und die ersten Schüsse abgegeben habe, erklärt: „Das ist gänzlich belanglos. Entscheidend ist, was den ersten Schüssen vorausgegangen ist.“ Und da sind wir bei der Frage, was den ersten deutschen Schüssen vom 1. September 1939 vorausgegangen ist?

Eine Reihe ausländischer Historiker geht kritisch mit den eigenen Regierungen der 20er und 30er Jahre ins Gericht. Sie verhehlen dabei nicht, daß diese den Zweiten Weltkrieg mit verursacht haben. Das Studium der offiziellen Akten, soweit sie heute zu unserer Einsicht zur Verfügung stehen, und die Bewertungen dieser ausländischen Historiker belegen, daß der Zweite Weltkrieg nicht nur einen Vater hatte, den Diktator Adolf Hitler. Dieser Krieg braute sich bereits zu einer Zeit zusammen, als Hitler noch ein arbeitsloser Landschaftsmaler in Wien und München war.

Ohne Hitler hätte es am 1. September 1939 keinen neuen Krieg gegeben. Wahrscheinlich aber hätte es ohne Roosevelt, Stalin, die „Kriegspartei“ in England und die polnische Regierung den Kriegsausbruch von 1939 ebenfalls nicht gegeben. Diese Feststellung mag zunächst verwundern, ist der Friedenswille aller anderen Staaten 1939 doch „literaturverbürgt“.

Mancher mag sich nun fragen, welche Gründe andere Staaten und Regierungen gehabt haben können, einen neuen Weltkrieg zu riskieren oder ihn sogar zu entfachen. Das alles gehört zu den Ursachen, nach denen die 30 Abgeordneten des Deutschen Bundestages fragen.

Die Regierung der Sowjetunion wollte die ihr von den Polen 1920 abgenommenen Gebiete Weißrußlands und der Ukraine wiederhaben. Es handelte sich um das Land, das bis zu den Polnischen Teilungen zwar zur Polnisch-Litauischen Union gehört hatte, das die alliierten Siegermächte 1919 aber nach den Volkstumsgrenzen Rußland zugesprochen hatten. Dort lebten 1919, vor der polnischen Eroberung, neben sechs Millionen nichtpolnischen Ukrainern, Juden und Weißrussen nur 1,5 Millionen Polen. Der Umgang der Polen mit den Nichtpolen wurde ab 1920 zum Problemfall, den man sowohl in der Sowjetunion als auch in Großbritannien und in Frankreich registrierte. So schreibt der Manchester Guardian am 14. Dezember 1931: „Die Ukraine ist unter polnischer Herrschaft zur Hölle geworden. Von Weißrußland kann man dasselbe mit noch größerem Recht sagen.“ Der französische Slawistikprofessor René Martel – zu der Zeit oft Gast in Polen – schrieb: „Die Gefängnisse von Lemberg quellen über von Ukrainern aller Schichten, deren einziges Verbrechen darin bestand, Ukrainer zu sein oder Ukrainisch zu sprechen.“ 1930 klagte der griechisch-katholische Metropolit von Lemberg in einem Brief: „Die polnischen Strafexpeditionen ruinieren unsere Dörfer, unsere Schulen und unsere wirtschaftlichen Einrichtungen. Es handelt sich um eine krisenhafte Zuspitzung eines Systems der Verfolgung, das seit 1920 nicht mehr aufgehört hat.“

Fortsetzung folgt

Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 vor dem Bundestag: Das damalige Staatsoberhaupt der Bundesrepublik sprach von „Befreiung“ und „erzwungener Wanderschaft von Millionen Deutschen nach Westen“. Foto: DHM

Lesen Sie zu diesem Thema auch die Beiträge von General Gerd Schultze-Rhonhof in der Zeitschrift Soldat im Volk


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