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Preußische Allgemeine Zeitung / 25. Dezember 2004
Viel spannender als der Rückblick aufs Vergangene ist natürlich die Vorhersage
dessen, was im nun anbrechenden Jahr 2005 alles ins Haus steht. Sterndeuter und
Glaskugelleser haben da bestechend präzise Ausblicke zur Hand. Das war auch vor
einem Jahr nicht anders, als man uns oft den Tag genau vorhersagte, was uns 2004
ereilen würde.
Ein Augure wußte beispielsweise zu berichten, daß Los Angeles den Sommer nicht
mehr erleben würde, da exakt am 9. April ein Asteroid die ganze Stadt
plattmache. New York stürbe im Juni 2004 den Strahlentod nach einem
fürchterlichen atomaren Terroranschlag, menetekelte ein Kollege. Ein weiterer
Weissager beruhigte uns mit der Gewißheit, daß George W. Bush die
Präsidentschaftswahlen im November nicht gewinnen würde. Wieder ein anderer
wußte auch, warum: Der sagte nämlich voraus, daß der in Europa so ungeliebte
Präsident am 19. August einem Attentat zum Opfer falle. Schlimm, dieser
Blödsinn. Niemand jedoch überschritt die Grenze zum ganz und gar Unseriösen so
schamlos wie ein windiger Vogel aus Deutschland. Der prophezeite uns ohne rot zu
werden für den 2. Februar 2004 die „Einführung des weltweit modernsten
Maut-Systems für Lastwagen“. Doch da haben dann sowieso nur noch alle gelacht.
Nur einer fand das nicht so witzig: Der Kanzler. Immerhin war der bodenlose
Schwadroneur sein eigener Verkehrsminister. Schröder paßte die Maut-Pleitenserie
nicht ins Konzept des „Innovationsjahres 2004“. Haben Sie’s schon vergessen? Ja,
das hat der Kanzler vor zwölf Monaten mit viel Pomp eingeläutet – und er hielt
Wort, denn die Liste der „Innovationen 2004“ ist stattlich: Praxisgebühr,
Steuererhöhungen, Hartz-Beschluß – wir sind einige Schritte vorangekommen. Das
hat den deutschen Regierungschef beflügelt, seinen Innovationsdrang auf Europa
auszudehnen. Im März beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs in
Lissabon, daß ihre Volkswirtschaften ab jetzt viel schneller wachsen als bisher
und daß die EU im Jahre 2010 die dynamischste Wirtschaftsregion der Welt ist,
dynamischer insbesondere als die USA. Wie das gelingen sollte, würden sie uns
später verraten, so unsere Erwartung.
Neun Monate später warten wir immer noch auf die sensationelle Enthüllung, wie
Europa an die Spitze der Welt kommt. Es beschleicht einen der Verdacht: Hofften
die EU-Granden vielleicht bloß, daß der Asteroid für Los Angeles doch noch kommt
und die US-Wirtschaft ruiniert? Oder daß die Chinesen uns zuliebe ihre
Wirtschaft mittels deutschem Betriebsverfassungsgesetz, Trittinscher Ökosteuer
und bundesrepublikanischer Vorschriftenkeule ebenso zur Strecke bringen, wie wir
die unsere – und Japan nebst „Tigerstaaten“ gleich mit in den Abgrund reißen?
Denn ohne solche Hilfe von draußen wird der „Lissabon-Prozeß“ unter Brüsseler
Aktendeckeln verfaulen. Er müffelt bereits jetzt, so kurz nach seiner Geburt.
Aber man kann ja mal träumen: Nicht selten kommt plötzliche Hilfe nämlich von
völlig unerwarteter Seite, wie dieses Jahr für die deutschen Sozialdemokraten.
Zunächst schien es, als werde 2004 zu einem weiteren Katastrophenjahr für die
Sozis. Im Februar warfen sie ihren letzten Rettungsanker ins Wasser und
präsentierten Franz Müntefering als künftigen neuen Parteichef. Der
„Münte-Effekt“ sollte die zermarterte Partei aus dem Strudel ziehen. Statt
dessen ging es munter weiter in die Tiefe: Die Wahlen in Hamburg und
Niedersachsen gerieten zum Desaster, Tausende Mitglieder verstopften die
SPD-Briefkästen mit Austrittserklärungen und die Umfragewerte kamen
allwöchentlichen Hinrichtungen gleich. Nix da mit „Münte-Effekt“. Dann im Sommer
jedoch nahte die unverhoffte Rettung aus schwerster Not. Und der da als weißer
Ritter über den Horizont galoppierte, war, man mochte es kaum glauben,
ausgerechnet die Union!
Seit Anbruch der warmen Jahreszeit rackerten sich die alten christdemokratischen
Widersacher redlich ab, der SPD auf die Beine zu helfen. Die Methode haben sie
der Natur entlehnt: Um ihre Kinder vor gefährlichen Räubern zu schützen,
veranstalten Tiereltern einen chaotischen Rabbatz und spielen „leichtes Opfer“,
damit das Biest es auf sie absieht statt auf die Kleinen. Dementsprechend fügen
sich seit dem Sommer die Unionler in regelrechten Straßenschlachten gegenseitig
tiefe Wunden zu. Der Erfolg blieb nicht aus: Tatsächlich hat sich der
übellaunige Wähler vom Durcheinander im Nest der Regierung abgewendet und
bleckte die Zähne nun gegen die Merkel/Stoiber-Truppe. In Sachsen gelangte die
SPD daraufhin erstmals seit 1933 wieder in die Regierung. Damit niemand auf den
Gedanken kommt, das unionsinterne Gemetzel zugunsten von Rot-Grün sei nur Schau,
hat man uns im Herbst sogar richtige Opfer vor die Füße geworfen: Merz und
Seehofer.
Manchmal benötigt eine Regierung eben eine hilfsbereite Opposition, um ihr
Überleben zu sichern. So war das dieses Jahr auch in Übersee. Erst mußte
Washington einräumen, daß es „wohl doch keine Massenvernichtungswaffen“ in
Saddams Irak mehr gegeben habe. Wenige Monate später gaben Bushs Geheimdienstler
zu, daß auch keine Kontakte zwischen El Kaida und dem Despoten von Bagdad
existiert hätten. Selbst bislang Bush-treue Amerikaner rieben sich die Augen. Es
sah schlecht aus für die Wahlen im November.
Bush-Herausforderer Kerry erkannte den Ernst der Lage und gab fortan sein
Bestes, dem Mann im Weißen Haus aus der Patsche zu helfen. So verprellte er mit
Verve seine klassische Wählerschaft. Für Kerrys Demokraten stimmen üblicherweise
neben den Linksintellektuellen vor allem Arbeiter und arme Leute, die vom
Niedergang der großen Industrie an den Rand gespühlt wurden. Bushs Republikaner
hingegen stützen sich bevorzugt auf die tiefgläubigen, bodenständigen
Mittelwestler. Während Bush seine Anhänger mit allem bediente, was sie hören
wollten, verbarrikadierte sich Kerry eisern in den Champagner-Etagen der großen
Stars und würdigte die „kleinen Leute“ fast keines Besuchs. Nur einmal erschien
er während des Wahlkampfes in einer Armenküche, wo er bleibenden Eindruck
hinterließ. Als Geschenk brachte Kerry den Aus- gestoßenen ein paar Paletten
„Heinz-Ketchup“ aus der Fabrik seiner Frau mit. Sehr praktisch: Die kosteten
nichts. Es stellte sich jedoch heraus, daß das rote Zeug sein Haltbarkeitsdatum
schon um ein halbes Jahr überschritten hatte. Darauf angesprochen, blaffte der
„sozial engagierte“ Kandidat los, die „Penner“ sollten froh sein, wenn sie
überhaupt etwas bekämen. Freundlicherweise machte er den Striptease seines
sozialen Gewissens, während das Mikro noch an war. 2004 dürfte das erstemal in
der Geschichte der USA gewesen sein, daß die Insassen von Armenküchen,
Sozialstationen und Obdachlosenasylen mehrheitlich den republikanischen Bewerber
gewählt haben. Bush wußte, was er an einem so aufopferungsvollen
„Herausforderer“ hatte und dankte Kerry nach seiner Wiederwahl für den „fairen
Wahlkampf“.
Die deutsche CDU/CSU hatte ja schon 2003 mit dem Hohmann-Rausschmiß gezeigt, daß
auch sie es versteht, die eigene Kernwählerschaft unschädlich zu machen. Doch
wie die weiteren Monate zeigten, reichte das allein nicht, um der Regierung
aufzuhelfen. Als es im Sommer wegen der Hartzdemos noch einmal eng zu werden
drohte für Schröder und Co., legte die Union daher ihren tiefkranken
„Gesundheitskompromiß“ nach. Der endlich brachte die Wende.
Da allerdings wurde den Schwarzen dann doch bange. So gänzlich untergehen
wollten sie nun wieder nicht. Aufgeregt kramten sie vergangenen Herbst in alten
Unterlagen, um dort irgendetwas Vorzeigbares zu finden, mit dem man das
Gesundheitsfiasko zudecken könnte. Sie fanden nichts als einen vergilbten Ordner
aus der Zeit der Hohmann-Beseitigung. Da stand nur noch schwer entzifferbar
„Patriotismusdebatte“ drauf. Drinnen war zwar so gut wie nichts, nur ein paar
Zettel mit gutklingenden Vokabeln. Da aber auf die Schnelle nichts Besseres zur
Hand war, nahm man was man hatte. Und weil Merkels Leute die eigene Klientel
nicht noch weiter verunsichern wollten, mußte nun alles absolut CDU-typisch
ablaufen, so wie man es kennt.
Das heißt zuallererst: Ein Trend muß immer schon gut abgehangen sein, bevor sich
die Christdemokraten dranwagen. Das war beim Patriotismus gegeben, selbst die
seit Jahrzehnten lustvoll vaterlandsverachtende Kunst- und Kulturszene hatte
Deutschland längst wiederentdeckt. Der neue Bundespräsident, den die Spitzen von
Union und FDP in der Berliner Wohnung von Guido Westerwelle auspokerten (weil
alle denkbaren Kandidaten aus den gängigen Parteikadern ihr Verfallsdatum schon
weit deutlicher überschritten hatten als Kerrys ranzige Tomatensoße), hatte
seinen Patriotismus im Mai öffentlich zugegeben und war dafür nicht geschlachtet
worden. Parallel dazu ging die verordnete Begeisterung der Deutschen für alles
möglichst Nichtdeutsche nach den Anschlägen von Madrid im März und Amsterdam im
November spürbar zurück. Zuguterletzt verwendeten die Rot-Grünen den
Vaterlandsbegriff sowieso längst nach Belieben – kurz: die Luft schien rein in
Sachen Patriotismus, die Union konnte es, freilich als letzte, auch mal wagen.
Aber natürlich nicht ohne Rettungsringe: Der Unions-Patriotismus wurde in ein
dickes Tuch fein gestickter Einschränkungen ge-wickelt, auf die Schröder
bezeichnenderweise bei seiner Forderung nach dem „deutschen Weg“ schon 2002
fröhlich gepfiffen hatte. Heraus kam die Losung: „Patriotismus ist gleich
Grundgesetz plus Westbindung und 3. Oktober“, Schluß. Die Deutschen waren
enttäuscht. Die Sache geriet dermaßen pladderig, daß man sie nicht einmal ihnen
vorsetzen konnte. Sie hätten es schon ein klein wenig deftiger vertragen.
Dies war abermals die Stunde, in der sich die Solidarität der Parteien bewähren
mußte, was sie auch tat: So wie die Union der Regierung im Sommer unter die Arme
gegriffen hatte, so eilte jetzt Rot-Grün zur Stelle, um sich revanchieren.
Schröders und Fischers Türkei-Besoffenheit öffnete uns die Augen, das der
rot-grüne Patriotismus in Wahrheit noch dünnflüssiger ist als jener der Union,
auch wenn Schröder den seinen raubauziger formuliert hatte. Plötzlich stimmt die
Welt wieder und wir erleben etwas, was die, die unter 30 sind, im Grunde noch
nie wirklich zu Gesicht bekamen: Richtige Unterschiede zwischen den beiden
großen Parteien in einer wichtigen Frage. Wir sind beeindruckt.
Die Älteren bleiben natürlich skeptisch. Sie haben so ihre Erfahrungen gemacht:
In den 70ern lief die CDU/CSU-Opposition Sturm gegen alle möglichen Dinge wie
die Ostverträge, die Staatsverschuldung oder den überbordenden Sozialstaat. Nach
Kohls Regierungsantritt wurden der DDR Milliarden zugesteckt, die Verschuldung
ging munter weiter und der Sozialstaat blieb, wie er gewesen war. Ob die Union
nach einem erneuten Regierungsantritt abermals die „Kontinuität der deutschen
Politik“ entdeckt, die auf der „bindenden Kraft der Verträge“ beruhe („pacta
sunt servanda“), nach denen die Türkei nun einmal – schweren Herzens –
aufgenommen werden müsse? Bleibt abzuwarten.
Wesentlich für den Erfolg der Beitrittsverhandlungen wird sein, daß die „Eliten“
unseres Landes bis zum Abschluß nicht auf unstatt-hafte Weise mit weniger
erfreulichen Aspekten unserer Großstadtghettos konfrontiert werden. Wer
gescheiterte Integration und Re-Islamisierung hiesiger Moslems als Realität in
seinem eigenen Viertel erlebt, den befallen unter Umständen „irrationale Ängste“
für den Fall weiterer Millionenzuwanderung aus Anatolien. Wer woanders wohnt,
ist da schon viel optimistischer. Man darf halt nicht allzu nah dran sein.
2004 war da lehrreich: Den 200fachen Mord von Madrid überstand die
Multikulti-Vision erstaunlich gut. Es waren eben bloß ein paar namenlose
Vorstadtpendler. Mit Theo van Gogh hingegen wurde zwar „nur“ einer ermordet.
Aber die Intellektuellen erkannten schnell: er war einer von uns! Das war der
Unterschied. Nach Madrid war man somit noch bereit gewesen, die Dialog selbst
mit den verlogendsten Islamisten um jeden Preis fortzusetzen, den man anderen
zumuten mochte. Nach Amsterdam jedoch breitete sich ein mulmiges Gefühl aus.
Indes – wie es scheint, erholt sich die wunderbare Idee von Multikulti auch von
diesem Schock langsam, aber sicher. Wir wollen es halt noch einmal wissen. 2005
wird es uns wissen lassen. Prosit Neujahr!
Blockierte Republik: "Die Abfahrt verzögert sich um weitere..." Zeichnung: Götz
Wiedenroth |