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15.01.05 / Nach dem Schneefall

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 2 vom 15. Januar 2005

Nach dem Schneefall
von Agnes Miegel

Es gibt nichts Schöneres als die ersten Stunden nach einem Schneefall in unserer Stadt. Irgendwie scheint ein Wunder geschehen, alles sieht neu und wunderbar verschönt aus, der Lärm ist zu einem sanften Brausen gedämpft, die Schloßteichpromenade hat etwas von Weihnachten ins Bilderbuch bekommen, Kinder und Hunde laufen herum wie berauscht, und wenn dann noch von weither das Geläut eines Landschlittens klingt, wachen die hübschesten Kindererinnerungen in der verkümmerten Stadtseele auf.

Aber diese Herrlichkeit ist von kurzer Dauer. Eine fatale Unebenheit des Bodens, auf dem man wandelt – abwechselnd die schlitternde Glätte der vereisten Bürgersteige, der seesandtiefe graubraune Morast des Damms, bei dem man ängstlich an Tauwetter denkt; all dieses wird zu einem peinlichen Eindruck, einer Ungehörigkeit, die ebensowenig in die Stadt paßt, wie die Wälle von schichtkuchenartigen Schneebrocken an den Ecken – wie diese ganze schokoladenbraune Last, die auf dem bröckligen Pregeleis liegt. Der von allen Essen beräucherte Schneerand an den Dachfirsten sieht ebenso kläglich mitgenommen aus wie die zusammensinkenden Pelzkappen und Kragen am Kantdenkmal.

Das soll kein Appell zur Straßenreinigung sein, bewahre. Nur ein trauriges Eingestehen, daß Großstadt und Natur sich nicht miteinander vertragen. Es ist kein Platz mehr in diesen verglasten Backsteinschluchten für all die Dinge, um die Gott und Noah einen Bund schlossen.

Im großen ganzen sind wir Königsberger noch sehr gut weggekommen bei der Verteilung der westlichen Zivilisation. Die sieben Hügel, auf denen wir uns wie Rom ausbreiten mit ihrem Sand und Lehm, das ähnlich weichmütige Habergebirge und der Pregelsumpf dazwischen werden uns wohl auf

längere Jahrzehnte eine Untergrundbahn ersparen, diesen für den Verkehr ja nützlichen, sonst aber so greulichen Homunkulus unter den Bahnen, der nicht Tag, nicht Nacht, nicht Luft, nicht Wind, nicht Regen, nicht Erde kennt, bloß Beton und was sonst darauf gedeiht. So sieht denn unser Ersatz für diese verkehrstechnische Neuerung draußen am Steindammer Wall vorläufig ganz anheimelnd aus und dem alten Wallgraben vertrauenerweckend ähnlich. Oder vielmehr vertrauenerweckender. Denn dem Wallgraben haftete im Gegensatz zu unserem Pregel immer etwas Menschenfeindliches an. Es liefen auch allerlei schaurige Gerüchte über ihn um, die er beim Abgelassenwerden gründlich, aber nicht vornehm, durch ein Ausbreiten zahlloser zerbolzter Kochtöpfe, Eimer, Wannen und Lumpen widerlegte, in denen Reste kleiner Katzen zum Himmel stanken, aber keine Menschenskelette. Und sein Rest am Königstor, wo ein bißchen Wasser trübselig über die Stufen unter dem Bahngleise tropft und einem die ewige Frage aufzwingt, wo dies Wasser hinfließt – dieser Rest läßt das Gruseln jener Jahre, als er ein richtiger Wallgraben war, wirklich zum Kindermärchen werden.

Man hätte damals gewagt, auf dem Wall zu rodeln? Das kam nicht vor, denn erstens war es sowieso verboten, zweitens konnte man dabei teils zu Lande, teils zu Wasser zu Schaden kommen und drittens gab es in Ostpreußen keine Rodelschlitten. Man fuhr Stuhlschlitten, eingemummelt bis zur Nase, und wenn einem außerhalb der Eisbahn nach rascherer Bewegung war, dann „schorrte“ man. Aber Schloßberg und Tuchmacherstraße, Butterberg und Veilchenberg ahnten noch nicht, welche Wintersportberühmtheit sie einmal erreichen sollten. Als ich vor 30 Jahren zum erstenmal an einem schönen Wintermorgen im Weimarer Park an der Bibliothek solch eine Schlittenrutschbahn sah, war ich starr wie ein Eiszapfen vor Bewunderung. Die Schlittchen, auf denen die Sachsen-Weimarer da die Ilmwiese heruntersausten (gegen deren sanften Abhang der Wall am Königstor wie das Matterhorn erscheint), diese Schlittchen hatten nicht die mindeste Ähnlichkeit mit einem modernen Rodelschlitten, sondern waren harmlose Gebilde, die gelblackierten Fußbänkchen recht gleich sahen. Aber die jungen Thüringer handhabten sie mit einer Gewandtheit, die jedem schwedischen Wintersportplatz (deutsche und Schweizer gab es noch nicht) Ehre gemacht hätte.

Dem alten Großherzog lag aber das Ergehen seines Rasens mehr am Herzen als diese Ertüchtigungsbetätigung und er ließ die Jugend ersuchen, sich auf eine andere Bahn zu begeben. Da rückten sie mit ihren Schlittchen vors Schloß, schwenkten sie, klapperten damit und stimmten einen Barditus an, vor dessen Gewalt die klassische Tradition nach- und die Ilmwiese freigab. Das war die erste Revolution, die ich miterlebte. Sie endete mit einem Hoch auf den alten Carl Alexander und teilte mit Verschiedenen, die ich später sah, nur das Getöse. Jetzt gibt’s auch dort sportlich vollendete Rodelschlitten, grad wie hier. Und wenn meine Patenkinder mir einen Vortrag darüber halten, höre ich zu und glaube alles. Erstlich, weil’s meine Patchen sind, und zweitens, weil ich nichts davon verstehe. Der Wintersport liegt mir nicht – und ausgenommen Fahrten im Klingerschlitten nach Vierbrü-derkrug, auf die ich mich immer tagelang freute und die ich nachher monatelang verwünschte, dank einer Neigung, mir Nase und Kinn zu „schrecken“ – hab ich’s nie weit darin gebracht. Beim Schorren verknackst’ ich mir den Enkel und immer, wenn ich Schlittschuh laufen lernte, kam Tauwetter, und die Tannen auf der Schloßteichbahn standen schräg übergekippt, wie lebensmüde Romanheldinnen, im Wasser, in dem die Bänke schwammen.

Die mangelnde Sportbegabung war nicht ganz meine Schuld. Ich gehörte zu den Kindern, die in jener Generation häufig waren und jetzt selten sind (was trotz allem Gestöhne über das Gegenteil ein Beweis ist, daß das neue deutsche Geschlecht gesünder ist als wir) – jenen armen Würmern, die ewig husteten, dicke Backen und Drüsen hatten, und zu deren Wintergarderobe die Speck-schwarte und der Strumpf um den Hals gehörte. Das heilte alles – und tat es auch, weil wir daran glaubten. An Wirkung übertraf es höchstens die angebratene Zwiebel, die „zum Ziehn“ auf „Umlauf“ und Frostbeulen gelegt wurde; in diesem Fall verstärkt durch einen Petroleumlappen, dessen Geruch sich gerne in die derben Lederschuhe zog und ihnen treu blieb.

So bepflastert wanderte man dann morgens zur Schule, bei letztem Mondschein oder allererster Dämmerung. Denn die mitteleuropäische Zeit war zum Heil für unsere Land- und Lichtwirtschaft noch nicht in Ostpreußen eingeführt. Rechts streuten die Mädchen, in dicken, gestrickten Kopftüchern und Brusttüchern, Asche auf den Bürgersteig, links türmten sich Schneeberge, höher als wir kleinen Wollbälle und wirklich weiß. Hinter ihnen gingen die Glocken an den Bauernschlittchen der Marktleute und des Milchmanns. Alles war blau-weiß in dem frühen Licht, ganz rein, frei von Schmutz und Qualm, eingehüllt in den Morgenfrieden der verschlafenen östlichen Kleinstadt, von einer Lieblichkeit, die heute nur noch die allerersten Stunden nach einem Schneefall den Kindern unseres groß gewordenen Königsberg vortäuschen. (1923)

Das alte Königsberg im Winter: Spaziergänger besuchen die verschneiten Schloßteichkaskaden von Martin Stallmann. Foto: Archiv


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