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15.01.05 / Verlorene Wurzeln / Das tragische Schicksal eines Ostpreußen aus Tilsit im Kalten Krieg

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 2 vom 15. Januar 2005

Verlorene Wurzeln
Das tragische Schicksal eines Ostpreußen aus Tilsit im Kalten Krieg
von Hans Dzieran

Der Kalte Krieg ist lange vorbei, und kaum jemand kann sich heute noch vorstellen, wieviel menschliches Leid er verursacht hat. Der Autor ist dem Schicksal des Ostpreußen Armin Raufeisen nachgegangen, der als Jugendlicher seine Heimat verlassen mußte und große Schwierigkeiten hatte, im Westen Fuß zu fassen. Als er in die Fänge der Geheimdienste geriet, war sein weiteres Leben vorbestimmt.

Durch die Dunkelheit eines Januarabends rollte ein Audi über die Interzonenautobahn in Richtung Berlin. Der Aufbruch am späten Nachmittag in Hannover geschah Hals über Kopf. Armin Raufeisen und seine Frau Charlotte schnappten ein paar wichtige Utensilien, fingen die aus der Schule kommenden Söhne ab, holten den Wagen aus der Garage und ab ging die Post. Man schrieb den 22. Januar 1979.

Alles an der Situation war ungewöhnlich und merkwürdig. Für Raufeisen war es schon wieder eine Flucht. Sollte das nie ein Ende haben? 35 Jahre war es nun her, als er das erste Mal ins Ungewisse mußte. Seitdem war er nicht zur Ruhe gekommen.

Eine unerträgliche Spannung hatte sich der Reisenden bemächtigt. Raufeisen sprach kaum ein Wort, und Michael und Thomas, 18 und 16 Jahre alt, erfuhren auf ihre drängenden Fragen nur, daß es dem auf Usedom wohnenden Großvater nicht gut gehe. Bei einer Raststätte unweit Magdeburg ging der Vater telefonieren. Als er wiederkam, schien er erleichtert. Er hatte sich mit zwei Männern verabredet, die sie vor Berlin erwarteten und deren Pkw sie dann folgten. In einer Villa am Stadtrand von Berlin, in Eichwalde, endete vorerst die seltsame Fahrt.

Während Armin Raufeien ein Stein vom Herzen gefallen zu sein schien, quälte sich seine Frau voller Zweifel, rätselten seine Söhne, was hier eigentlich gespielt wurde. Am nächsten Tag erfuhren sie die erschütternde Wahrheit:

Armin Raufeisen, der seit mehr als 20 Jahren in Hannover lebte, war als „Kundschafter des Friedens“ enttarnt worden. Am 18. Januar 1979 hatte sich ein Mitarbeiter der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR, Oberleutnant Stiller, mit einem Koffer voller brisanter Unterlagen in die Bundesrepublik abgesetzt. Er war Führungsoffizier von 32 Wirtschaftsspionen des sogenannten Sektors Wissenschaftlich-technische Aufklärung. Sie waren in solchen bundesdeutschen Firmen und Institutionen tätig, die mit Hightech zu tun hatten, sie hielten die DDR-Wirtschaft über wissenschaftlich-technische Neuerungen und vertrauliche Forschungsergebnisse auf dem laufenden.

Der bundesdeutsche Nachrichtendienst war überrascht. Mit großer Sorgfalt prüfte er das Material, das Stiller auspackte. Bis es zu entsprechenden Verhaftungen kam, war so mancher Agent gewarnt. Nur 17 von ihnen konnten nach Stillers Flucht festgenommen werden. Den anderen gelang der Rückzug in die DDR. Einer von ihn war Armin Raufeisen. Wer war er eigentlich, den alle nur als angesehenen Mitarbeiter der Preussag kannten?

Armin Raufeisen wurde am 13. November 1928 in Endrejen, in der ostpreußischen Elchniederung geboren. Die Jugend verbrachte er in Tilsit. Durch die Kriegsereignisse mußte auch er Ende 1944 seine Heimat verlassen. Die Familie Raufeisen fand sich in Härtensdorf wieder, einem kleinen Dorf im sächsischen Erzgebirge, wo sie auf dem Bauernhof Brenner eine Bleibe fand. Ein Zurück in die ostpreußische Heimat gab es nicht mehr.

Armin litt unter seiner Sehnsucht nach der geliebten Vaterstadt und schmiedete immer wieder abenteuerliche Pläne zur Rückkehr an den Memelstrom. Doch daraus wurde nichts. Man mußte versuchen, in der neuen Umgebung Fuß zu fassen. Als im benachbarten Wildenfels ein Uranschacht der Wismut geteuft wurde, fand er Arbeit als Hauer im Objekt 29. Er besuchte einen geologischen Lehrgang und wurde als Geophysiker in Ronneburg eingesetzt.

Seine Bemühungen, nach Ostpreußen zu kommen, blieben nicht verborgen. Sie wurden argwöhnisch verfolgt. Zwangsläufig geriet Raufeisen in die Fänge der Geheimdienste. Statt nach Tilsit sollte er nach Hannover gehen und sich an der „unsichtbaren Front“ bewähren.

Der Westen und das Abenteuer reizten Raufeisen. Der Krieg hatte ihm seine heimatlichen Wurzeln genommen, eine neue Heimat hatte er in Sachsen ohnehin nicht gefunden, und für die Funkerei hatte er schon immer etwas übrig. 1957 ging er über die damals noch offene Grenze nach Hannover, seine Frau Charlotte folgte kurz darauf.

Perspektivagenten stellen für Geheimdienste einen ungewissen Wechsel auf die Zukunft dar. In welcher Wirkungsstätte wird er Fuß fassen, wird er wirklich seine nachrichtendienstliche Tätigkeit aufnehmen oder sich der feindlichen Abwehr offenbaren? Raufeisen begann als Geophysiker bei der Preussen Elektra, der späteren Preussag, zu arbeiten. Wer bei dem Energiegiganten etwas werden wollte, mußte tüchtig sein. Und das war er. Bald galt er als versierter Experte und machte Karriere als Geophysiker.

Aber die Mühlen des Kalten Krieges forderten mehr und es gelang ihm nicht, sich daraus zu entziehen. Seine berufliche Position verschaffte ihm Zugang zu vielen interessanten Unterlagen. Der Inhalt von Forschungsberichten, Besprechungsprotokollen, vertraulichen Firmenanschriften nahm seinen Weg nach Ost-Berlin. Hier freute man sich vor allem über Informationen zum Stand der Kernenergienutzung und zu anderen Forschungen von militärischer Bedeutung. Zu Hause stand eine sorgfältig getarnte Anlage zur Übermittlung von Funksprüchen ...

Nun saß Raufeisen nach Stillers Enttarnung mit seiner Familie in der DDR. Das Leben würde sich grundlegend ändern. Es war ein Land, das seinen Söhnen fremd und unheimlich war. Der Schock saß tief. Sie begriffen die Handlungsweise des Vaters nicht und machten ihm Vorwürfe. Warum hatte er ihnen das angetan?

Das neue Leben nahm seinen Lauf. Formalitäten wurden erledigt. Armin Raufeisen, seine Frau und der 16jährige Thomas wurden Bürger der DDR. Michael war volljährig und lehnte eine Einbürgerung ab. Der Audi bekam ein DDR-Nummernschild. In Berlin wurde eine Dreizimmerwohnung in der Leipziger Straße 48 zugewiesen. Möbel, Bücher, Hausrat aus der alten Wohnung in Hannover – alles kam nach Berlin. Auch eine Arbeitsstelle wurde angeboten, im Zentralen Geologischen Institut.

Das Leben war ungewohnt. Ende der 70er Jahre hatte die Agonie in der DDR eingesetzt. Raufeisen war enttäuscht von den herrschenden Zuständen. Da nützte ihm auch die Verleihung des Vaterländischen Verdienstordens nicht viel. Zu sehr litt er unter dem Schock, den er seiner Familie zugefügt hatte. Denn die Familie drohte zu zerfallen, besonders, nachdem Sohn Michael nach hartnäckigem Drängen seine Ausreise aus der DDR durchgesetzt hatte. Kurz vor Weihnachten 1979 durfte er zurück nach Hannover.

Raufeisen verlor seine Arbeitsstelle. Er hatte ja nun Westverwandtschaft ersten Grades und war für seinen Job nicht mehr tragbar. Seine berufliche Tätigkeit hatte ihn ohnehin nicht befriedigt. Das zurückgebliebene Niveau der geologischen Lagerstättenerkundung war ihm unbegreiflich. Wissenschaftlich-technische Erkenntnisse des Westens, die er der DDR übermittelt hatte, waren offensichtlich im Papierkorb gelandet. Nun wollte er alles rückgängig machen. Er stellte einen Ausreiseantrag für seine Familie. Eine Aburteilung durch ein bundesdeutsches Gericht erschien ihm inzwischen als das kleinere Übel. Lieber wollte er im Westen eine Strafe absitzen, als sein restliches Leben im Osten zuzubringen. Der Antrag wurde abgelehnt.

Wie kommen wir alle hier nur wieder raus – dieser quälende Gedanke beschäftigte ihn von Stund an. Seinem Sohn Michael hatte er aufgetragen, in Hannover Kontakte mit einflußreichen Personen zu knüpfen, mit Politikern, Geheimdienstleuten und Schleusern. Alle Möglichkeiten der legalen und illegalen Ausreise sollten geprüft werden, um die Familie wieder zusammenzuführen.

Erste Hoffnung kam auf, als Michael wissen ließ, es gäbe eine Andeutung von einem BND-Mitarbeiter, man solle bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest vorsprechen. Dort sei man von dem Fall unterrichtet und könne helfen. Die Fahrt in die ungarische Hauptstadt endete mit einer Enttäuschung. Die Herren der Botschaft zeigten die kalte Schulter. Der Versuch war gescheitert.

Es galt, weiter nach Schlupflöchern zu suchen. Die Karre war verfahren. Monat für Monat wurden neue Fluchtpläne geschmiedet. Ruhelos streifte Raufeisen durch Berlin, fand am Alexanderplatz Kontakt zu einem US-Offizier, hatte ein Treffen mit zwei CIA-Agenten im Treptower Park, suchte Verbindung zu dem Schleuserunternehmen Aramco, sprach in einer Gaststätte den Fernsehjournalisten Pleitgen an – nichts blieb unversucht. Doch alle winkten ab. Endlich im Herbst 1981 tat sich eine neue Chance auf. Wieder bot sich Ungarn als Rettungspunkt an. In Budapest sollte ein Treff stattfinden. Doch die Reise fand nicht statt. Im letzten Moment wurde die Fahrt von den Behörden der DDR untersagt.

Hatten sie Lunte gerochen? Die monatelangen Bemühungen um Ausreise, die zahlreichen Kontakte und Telefonate waren nicht unbeobachtet geblieben. Raufeisen wurde nervös. Was er nicht wußte: Im niedersächsischen Landesamt für Verfassungsschutz gab es einen Kriminalhauptkommissar, der für die DDR arbeitete und diese über Raufeisens Fluchtpläne auf dem laufenden hielt. Schon seit einiger Zeit liefen die Ermittlungen wegen des Verdachts auf Kontaktaufnahme mit Vertretern fremder Mächte, landesverräterischer Agententätigkeit und Spionage.

Die Schlinge zog sich zu. Raufeisen stand mit dem Rücken zur Wand und geriet in Panik. Eine letzte Möglichkeit sah er im Durchschwimmen der Lübecker Bucht. Gemeinsam mit seiner Frau erkundete er die Gegebenheiten in Boltenhagen. Nun schlug das MfS zu. Auf der Ostseeautobahn wurden sie gestoppt und verhaftet. Am selben Abend nahm man Thomas in der elterlichen Wohnung in Berlin fest. Es war der 11. September 1981.

Fast ein ganzes Jahr galten sie als verschwunden. Erst im Sommer des Jahres 1982 erfuhr Michael von einem Westberliner Anwalt, daß die Eltern und der Bruder sich in U-Haft in Hohenschönhausen befänden.

Dann, im September 1982 fanden vor dem Strafsenat des Obersten Militärgerichts zwei gesonderte Prozesse statt. Charlotte Raufeisen wurde zu sieben Jahren, Sohn Thomas zu drei Jahren und Armin Raufeisen zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Alle kamen zur Strafverbüßung nach Bautzen II.

Aus dem Verdienten Kundschafter war ein Staatsfeind geworden. Vergeblich hoffte er in seiner Einzelzelle auf Austausch oder Freikauf. Das Gefühl der Ausweglosigkeit und Schuld machte ihn kaputt. Er hatte seine ganze Familie ins Zuchthaus gebracht. Die Galle machte ihm zu schaffen. Als eine akute Verschlechterung seines Zustandes eintrat, verlegte man ihn in das Haftkrankenhaus nach Leipzig-Meusdorf, wo er sich einer komplizierten Gallenoperation unterziehen mußte. Er überstand den viereinhalbstündigen Eingriff, erlag jedoch zwölf Tage später einer Lungenembolie. Am 12. Oktober 1987 – im Alter von 58 Jahren – endete sein Leben. Er war immer auf der Flucht. Seine Heimat hat er nie wiedergesehen.

Hinter Gittern: So mancher Spion wurde enttarnt und schließlich zu einer Haftstrafe verurteilt Foto: Archiv


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