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22.01.05 / Blindes Vertrauen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 3 vom 22. Januar 2005

Blindes Vertrauen
von Dieter Grau

Es war kein Zufall, der mich in den Heideort bei Celle führte. Und wenn doch, so nur insoweit, als mein ehemaliger Schulkamerad Konrad, den ich schon vor Kriegsende aus den Augen verloren hatte, durch die Erwähnung meines Namens im heimatlichen Kreisblatt auf mich aufmerksam geworden war. Da ohnehin eine Fahrt gen Norden in absehbarer Zeit bevorstand, versprach ich Konrad, ihn zu besuchen, damit wir uns in Ruhe das mitteilen konnten, was wir in der langen Zeit, in der wir uns nicht mehr begegnet waren, erlebt hatten.

Soviel war mir aus seinen Antworten auf meine Fragen im Gedächtnis geblieben: Nach Abschluß der Volksschule und einer kaufmännischen Lehre hatte man ihn 1943 zum Militär geholt. Bei den Kämpfen um Danzig war er gegen Kriegsende verwundet und dank der Blessuren noch vor dem letzten Inferno über die Ostsee nach Schleswig-Holstein gebracht worden. Es folgten Jahre der Neuorientierung, bis er schließlich in jenem Heideort eine Existenz und eine Frau gefunden hatte. Ihre drei Kinder waren zur höheren Schule gegangen und hatten Berufe ergriffen, die ihnen mehr als nur ein simples Auskommen boten. Auch darauf war Konrad offensichtlich stolz. Alles in allem schien mein alter Klassenkamerad ein zufriedener Mensch zu sein.

Nun stand ich in jenem Heidedorf vor Konrads Wohnhaus. Im Seitenspiegel meines Wagens sah ich die gepflasterte Garagenzufahrt neben dem Siedlungshaus, und dort an der Ecke stand Konrad, mich bereits erwartend. Ich stieg aus und ging auf ihn zu, er aber rührte sich nicht von der Stelle. Mit einer Hand winkte er vorsichtig in meine Richtung, als wollte er mich begrüßen. Als ich in sein Gesicht blickte, begriff ich, daß er mich nicht sah - nicht sehen konnte. Irgendwie ging sein Blick durch mich hindurch, fand keinen Halt, ging ins Leere ...

Ich ergriff seine rechte Hand und stammelte ein paar Worte zur Begrüßung. Mein Versuch, die Bestürzung über das soeben Entdeckte in meiner Stimme zu verbergen, mißlang. Ich verriet mich gründlich. Konrad besaß offenbar ein sicheres Gespür dafür, auch ohne Sehvermögen zu bemerken, was um ihn herum geschah. So reagierte er sofort und bekannte freimütig, daß er mir am Telefon die Art seiner Kriegsverletzung verschwiegen habe, um mich nicht von vornherein zu schockieren und damit vielleicht meinen Besuch in Frage zu stellen. Jetzt freute er sich sehr, daß ich den Weg zu ihm gefunden hätte. Wir sollten als erstes auf unser Treffen - er vermied bewußt das Wort Wiedersehen - einen "anständigen Schluck" nehmen, den seine Frau schon im Haus vorbereitet habe.

Was muß das für eine Frau sein, die in jungen Jahren einen Kriegsblinden heiratet und damit auf vieles verzichtet, was andere ihres Alters mit Selbstverständlichkeit vom Leben erwarten?, ging es mir durch den Kopf. Noch ehe wir die Haustür erreicht hatten, kam Konrads Frau uns entgegen, begrüßte mich freundlich und bat mich in die gute Stube. Bei Gott! Sie war sicher in ihrer Jugend alles andere als ein Mauerblümchen gewesen, das erkannte ich sofort. Ich wurde zu Tisch gebeten, mit Kaffee und Selbstgebackenem versorgt, und es fehlte auch nicht der von Konrad angekündigte Klare, mit dem wir auf unser Treffen anstoßen sollten. Die Hausfrau schnitt ihrem Mann das ihm zugedachte Kuchenstück in mundgerechte Happen, setzte ihm den Teller vor und versorgte auch sich mit dem Nötigen. Konrad tastete nach seinem Glas, und als es ihm gelungen war, es in die Hand zu nehmen, prosteten wir uns zu und tranken auf unsere gemeinsame Jugend und darauf, daß wir uns nun endlich gegenübersaßen.

Dann ging es ans Erzählen. Die Hausfrau nahm diesen Augenblick zum Anlaß, sich in die Küche zu begeben. Ja, es war schon ein hartes Los, bekannte Konrad, als 19jähriger nach der Splitterverletzung am Kopf begreifen zu müssen, daß er nie mehr im Leben würde sehen können. Wären damals nach dem Krieg nicht helfende Hände und tröstender Zuspruch - vor allem von seiner Mutter - gewesen, er hätte jene ersten Jahre wohl kaum ohne schweren seelischen Schaden überstanden. Dann aber war plötzlich seine spätere Frau in sein Leben getreten, und von da an hatte sich alles zum Besseren gewendet. Sie war ihm in allem eine Stütze, sein Halt, ihr konnte er blind vertrauen. Immer habe er, so betonte Konrad, sein Schicksal mit dem anderer aus unserer Heimat verglichen und dabei festgestellt, daß es manch anderen eigentlich härter getroffen habe als ihn.

Welch eine Aussage! Ich fing an, Konrad in seiner Haltung zu bewundern. Als hätte er erraten, daß ich Konkreteres erwartete, begann er zu erzählen: "Ich weiß nicht, ob du dich an die Schweighöfers erinnerst, deren Hof unweit unserer Kreisstadt in Berninglauken lag. Die Familie - Vater, Mutter, drei Töchter - hatte dort mit etwa 80 Morgen Land wie viele Bauern in unserer Gegend ihr gesichertes Auskommen. Als Bürgermeister hatte Vater Albert für die Vorbereitungen eines ,geordneten Rückzugs' der Bewohner seines Dorfes zu sorgen. Zu diesem Zweck hatte man ihn, den Endfünfziger, vom Dienst beim Volkssturm freigestellt, und so war er in seiner Gemeinde von Haus zu Haus gegangen, um den Leuten auf den Höfen - Frauen, alten Männern, Kindern, manchmal auch französischen Kriegsgefangenen - mit Rat und Tat zur Seite zu stehen bei der Frage, wie man Leiter- und Kastenwagen zu robusten, wetterfesten Fluchtfahrzeugen zusammenbaue und was an Verpflegung für den Ernstfall für Mensch und Tier bereitgestellt werden müsse.

Seine Aufgabe wurde ihm keineswegs leichter gemacht dadurch, daß seine Frau Martha gerade damals schwer erkrankte. Als der Geschützdonner der Front schon deutlich zu hören war, geleitete Albert mit seinen Töchtern und den meisten Dorfbewohnern Martha Schweighöfer zur letzten Ruhe auf dem kleinen Friedhof am Rande der Ortschaft. Manch einer mag damals die Verstorbene beneidet haben, ahnte man doch, daß ihr zumindest das, was vielen bevorstand, erspart bleiben würde.

Dann überstürzten sich die Ereignisse. Mitte Oktober 1944 kam der Räumungsbefehl für die Grenzkreise, kam der Abschied von Haus und Hof. Da Vater Albert sich um viele andere kümmern mußte, war es Aufgabe der beiden erwachsenen Töchter Hilde und Erika, je einen Wagen der Schweighöfers zu kutschieren, während die 16jährige Elsbeth der Nachbarin Preugschat mit ihren drei kleinen Kindern bei der Abfahrt half und sie auf dem Fluchtwagen begleitete.

In einer langen Reihe bewegten sich die Gespanne der Beringlauker über die Chaussee nach Westen, bis sie nach fast zwei Wochen im Raum südöstlich von Königsberg auf Bauernhöfen und Gütern eine vorläufige Bleibe fanden. Mitte Januar 1945 dann Durchbruch der Sowjetarmee, erneute Flucht, wobei Vater Albert seine Berninglauker zusammenzuhalten versuchte, was nur unter großer Mühe gelang. Die Flucht wurde zur Katastrophe, weil Hunderttausende bei Heiligenbeil am Haff eingekesselt waren und über das brüchige Eis zur Nehrung zu gelangen versuchten. Keiner weiß, wie viele Menschen damals im kalten Wasser ertranken, wie viele Fuhrwerke mit Mensch und Tier auf großen Eisquadern, welche russische Tiefflieger mit ihren Maschinengewehren systematisch ,herausgesägt' hatten, in die Tiefe des Haffes sanken. Die Schweighöfers überstanden jene infernalische Haffquerung einigermaßen heil, und auch andere Berninglauker fanden sich auf der Nehrung ein. Dann schleppende Weiterfahrt bis in den Danziger Raum, immer unter der Bedrohung aus der Luft. In einem Dorf bei Köslin war für die Berninglauker die Flucht zu Ende. Das Krachen explodierender Granaten und das Rattern von Kettenfahrzeugen waren untrügliche Zeichen des nahenden Unglücks. Was würden die nächsten Tage, die nächsten Stunden bringen?

An Widerstand war nicht zu denken, und so versteckte auch Albert Schweighöfer die einzige Schußwaffe, die sich beim Treck befand, seine Pistole mit wenigen Patronen, hinter einem großen Stein an der Ecke eines Stalls und deckte alles mit Erde ab. Ängstlich warteten Flüchtlinge und Einheimische, die nicht mehr hatten fliehen können, auf das, was unvermeidbar schien. Stunden vergingen. Dann plötzlich wurde die Totenstille von scharrenden Geräuschen an der Tür unterbrochen. Kolbenstöße gegen das Holz, ein Krachen, dann drangen mehrere Rotarmisten mit angelegten Kalasch-nikows in die Räume und richteten die Läufe auf die ängstlich kauernden Menschen.

Dawai! Dawai! Laute, die mit entsprechenden Gesten unmißverständlich die Verängstigten aufforderten sich ins Freie zu begeben. Draußen dann Durchsuchungen, Abnahme von Uhren und anderem, was den Beutegierigen brauchbar erschien, Trennung der wenigen Männer von Frauen und Kindern, Unterbringung der verschiedenen Gruppen in bewachten Scheunen und Kellern. Mehrere Tage lang völlige Ungewißheit, wie es weitergehen würde. Zu essen gab es nur etwas Brot und Wasser, die hygienischen Verhältnisse wurden von Tag zu Tag schlimmer, weil die Posten keinem erlaubten, sich zur Verrichtung der Notdurft außer Sichtweite zu begeben. Am härtesten traf es aber die Frauen. Wer nicht wie ein uraltes Mütterchen aussah, wurde fast jeden Abend mit vorgehaltener Waffe und dem Befehl ,Frau komm!' davongeführt.

Als die Eingesperrten nach anderthalb Wochen aus ihren Hafträumen entlassen wurden, fanden sich auch die Berninglauker wieder. Einige Männer fehlten, ebenso zwei 15jährige Jungen. Man habe sie, so hieß es, zum Arbeitseinsatz gen Osten abtransportiert. Die meisten besaßen jetzt nur noch das, was sie am Leibe trugen. Die Pferde waren fort, die Wagen geplündert, und nur selten hatte ein Rucksack oder eine Tasche die Zerstörungswut der Soldateska überstanden.

Albert Schweighöfer war kaum wiederzuerkennen. Als er sich schützend vor Frauen hatte stellen wollen, war er von mehreren Rotarmisten mit Kolben und Knüppeln so zusammengeschlagen worden, daß er blutüberströmt in einen Graben gestürzt und nahezu besinnungslos liegengeblieben war. Er sah erbärmlich aus und schleppte sich nur unter großer Kraftanstrengung vorwärts. Aber in kaum besserer Verfassung befanden sich seine drei Töchter. Zwar wirkten sie äußerlich unversehrt, wenn auch abgehärmt. Aber ihr innerer Zustand war zum Gott-erbarmen. Als sie ihren Vater erblickten, stürzten sie auf ihn zu, warfen ihm ihre Arme laut schluchzend um den Hals und flehten ihn an, sie vor weiteren unmenschlichen Demütigungen zu bewahren: er habe doch die Pistole versteckt, die jetzt einen Ausweg biete. Und sie drohten dem Vater, sich in den Dorfbrunnen zu stürzen, sollte er sich ihrer Forderung widersetzen.

Das gehäufte Familienelend ließ Vater Albert nur wenig zögern. Die vier Schweighöfers begaben sich hinter die Stallecke, an der die Waffe unter dem Stein lag. Hilde grub mit ihren Händen die Pistole und das Magazin mit vier Kugeln aus der Erde. Alberts Hände zitterten, als er das Magazin einschob. Für jeden eine Kugel, ging es ihm durch den Kopf. Ein letztes Mal küßten ihn seine Töchter, dann knieten sie vor ihm nieder, falteten die Hände und schlossen die Augen. Hilde sackte, als der erste Schuß gefallen war, in die Schläfe getroffen vornüber und lag regungslos am Boden. Dann fiel der zweite Schuß. Erika brach zusammen und wimmerte erbärmlich. Ihr Hals blutete stark, aber sie lebte, weil die Hand des Vaters zu sehr gezittert hatte. Albert Schweighöfer lud die Waffe durch und zielte ein zweites Mal auf Erikas Kopf. Diesmal saß der Schuß. Entsetzt begriff der Vater, daß jetzt nur noch eine Kugel im Magazin war. Voll Verzweiflung blickte er auf die immer noch zitternd vor ihm knieende Elsbeth. Er legte seine linke Hand auf ihr Haar und entschied die Tragödie dadurch, daß er sich mit der rechten Hand die Pistole an die Schläfe setzte und abdrückte."

Konrad schwieg, tastete nach meinen Händen und hielt sie fest. Ich wagte nicht, ihn in seinem Schweigen zu unterbrechen. Schließlich fuhr er mit ruhiger Stimme fort: "Du fragst sicher, woher ich das alles weiß. Aber vermutlich hast du, während ich berichtete schon geahnt, daß ich in die Geschichte verwoben bin. Elsbeth ist meine Frau. Wie sie das alles überstanden hat? Andere Berninglauker, besonders ihre Nachbarin Preugschat, nahmen sich ihrer nach der Tragödie an. Mit ihnen führte sie der Weg einige Monate nach Kriegsende in die ,Zone' bei Magdeburg, und von dort kam sie schließlich in den Westen und in unseren Ort, wo wir uns begegneten.

Ich bin sicher, daß sie mich damals liebgewann, wie ich war, und mich aus Liebe heiratete. Vielleicht spielt dabei meine Blindheit aber doch eine Rolle, weil sie, die äußerst Schamvolle, die ihren Peinigern zwar vergeben, aber das Geschehene nie vergessen hatte, mir nie ,in die Augen' zu sehen brauchte - oder weil sie in einer lebenslangen Verbindung mit mir, dem Blinden, einen Weg sah, täglich ihrem Schicksal Dank abzustatten, das ihr einen frühen Tod zugedacht hatte, sie aber dann doch ins Leben entließ.

Was auch immer für Gründe ihre Entscheidung beeinflußt haben mögen, ich habe nie danach gefragt und ihr immer blind vertraut. Und sollte nicht die Art, wie sie ihr Schicksal gemeistert hat, für mich immer Grund genug sein, mit dem meinen nicht zu hadern?"

Konrad schwieg wieder. Er hielt immer noch meine Hände fest in den seinen, und mir war, als strömte etwas von seiner Dankbarkeit und seinem "blinden Vertrauen" in mich über. n

Dieter Grau, geboren in Masuren und aufgewachsen in Trakehnen, wurde mit dieser Erzählung, die wir in gekürzter Form veröffentlichen, mit dem dritten Preis des 25. Erzählerwettbewerbs der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat ausgezeichnet. Grau hat mit dem Text in eindrucksvoller Form das Geschehen vor 60 Jahren geschildert.

Vor 60 Jahren: Die Flucht vor dem Kriegsgeschehen führt Männer, Frauen und Kinder durch Eis und Schnee. Foto: Archiv

 

Treck '45
von Kurt A. Hensle

In seiner Rösser Mähnen klirrt das Eis,

wenn keuchend im Geschirr sie hängen,

der alte Fuhrmann, schneesturmweiß,

verliert die Welt in ihren Übergängen.

In der gefrornen Räderspur

am Strick vom Hof der treue Hund,

den Kopf gesenkt, die Pfoten wund,

ein Bild verlaßner Kreatur.

Frostbeulig schleppt der Weg sich weiter.

Oft hält die Angst den Atem an.

Und plötzlich dann: Auf Eisenrossen,

da kommen sie herangeschossen,

des Weltenendes finstre Reiter,

und sensen nieder das Gespann.

An der Chaussee, blutrot im Schnee,

da liegt vom Hof der treue Hund,

hin kroch er noch zu seinem Herrn

in ihrer beider Todesstund.


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