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29.01.05 / "Steuermann, laß die Wacht!" / Von alten Seemannsbräuchen nach Pillauer Überlieferung erzählt Dagmar Jestrzemski

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 4 vom 29. Januar 2005

"Steuermann, laß die Wacht!"
Von alten Seemannsbräuchen nach Pillauer Überlieferung erzählt Dagmar Jestrzemski

Auf allen sieben Weltmeeren ähnelten sich einst die herkömmlichen Seemannsbräuche auf den Schiffen, die in der westlichen Hemisphäre beheimatet waren, Abwandlungen und Eigentümlichkeiten inbegriffen. Die Sitten und Bräuche auf den ostpreußischen Seeschiffen aus Königsberg, Elbing und aus Braunsberg an der Passarge werden nahezu dieselben gewesen sein wie diejenigen auf den Pillauern, die durch die Literatur gut überliefert sind, vor allem durch das Zeugnis des seefahrenden Schriftstellers Hans Parlow. Das meiste ist jedoch dem Vergessen anheim gefallen.

Im 19. Jahrhundert nahm die Seeschiffahrt nach dem Ende der napoleonischen Kriege nach und nach einen immer größeren Aufschwung. Dieser hielt bis zum Ende der Segelschiffszeit an, also bis um 1900. Janmaat war der Beruf unzähliger Landeskinder, welche keinesfalls nur den großen Hafenorten entstammten. Damals lebten noch viele der jahrhundertealten Sitten und Bräuche fort, die das rauhe Leben der Seefahrer auf Schritt und Tritt begleiteten. In das Ringen mit Wind und Wasser, Nebel und Kälte waren die Seeleute des 19. Jahrhunderts noch ganz anders mit einbezogen als später die Mannschaften auf den Dampfschiffen. Die herkömmlichen Bräuche und die Frömmigkeit wirkten wie ein fester Halt in diesem den Naturgewalten ausgelieferten Dasein. So ragte das Mittelalter noch eine Zeitlang in die Neuzeit hinein - bis die alten Seefahrerbräuche mit dem Ende der Segelschiffzeit den nachfolgenden Zeitgenossen ziemlich rasch aus Ohren und Sinn entschwanden.

Gesungen wurde viel, unterwegs auf großer Fahrt und an Land beim Verladen der Fracht. Ob fromme Lieder, kurze Ausrufe in Zweier- oder Dreier-Tonfolge - zum Beispiel die Meldungen der Wachhabenden - oder der rhythmische Gesang bei schwerer Arbeit: Das Leben auf See war untrennbar mit den traditionellen Gesängen verbunden. Auch in der Freizeit beim Flicken der Kleidung und beim Wergzupfen sangen oder summten die Matrosen. Doch die Melodien zu den Texten sind nur selten auf uns gekommen.

Einen Arbeitsruf ostpreußischer Seefahrer hat Richard Wagner durch sein berühmtes "Matrosenlied" in der Oper "Der fliegende Holländer" bewahrt und betextet: "Steuermann, laß die Wacht!" Bekanntlich flüchtete der Komponist 1839 auf dem Pillauer Schoner "Thetis" vor seinen Gläubigern nach London. Als man bei Arendal in Norwegen einen Nothafen anlaufen mußte, hörte Wagner diese Tonfolge, als die Matrosen die Rahsegel aufgeiten (aufgeien = die Schothörner oder unteren Ecken der viereckigen Segel an die Rah hochziehen). Deutlich wird, daß der Pull, also das Reißen der Leute am Geitau, auf den Ton h ("laß") erfolgt sein muß. Es ist eine schwere Arbeit, das Fall oder Tau, mit dem ein Segel in die Höhe gezogen wird, zu bedienen. Man kann sie nur gemeinschaftlich verrichten und dabei die Kräfte in einem bestimmten Rhythmus bündeln.

Bei vielen Arbeitsgesängen erklangen, ähnlich wie beim Psalmodieren im Gottesdienst, abwechselnd die Rufe des Vorsängers und die Antworten der übrigen Mannschaft. Solch ein Lied stimmte die aus Danzig und Pillau stammende Besatzung der Pillauer Bark "Pudel" um 1870 beim Reißen am Fall an:

Einer: "Es zog ein Matrose wohl über das Meer. Feinsliebchen am Strande, die weinte so sehr.

Alle: Hohooh, hohooh.

Einer: Die weinte so sehr.

Alle: Ein Jahr war verflossen, er kehrt nicht zurück. Sie rang ihre Hände mit Tränen im Blick.

Alle: Hohooh, hohooh,

Einer: mit Tränen im Blick.

Einer: Da kam ihr die Kunde: Das Schiff, es versank. Ihr Liebster und alles im Meere ertrank.

Alle: Hohooh, hohooh.

Einer: Im Meere ertrank."

Das Lied ist ein "Haul-Shanty": Auf die letzte Silbe jedes "hohooh" erfolgte der Pull, also das Reißen am Tau. Leider ist die Melodie untergegangen.

Der Koch, genannt Kock, hatte eine Sonderstellung an Bord. Er hatte seinen eigenen Liedschatz, auf den er große Stücke hielt. Die Melodien wurden oftmals von Gassenhauern übernommen, wie im folgenden Fall. Der Koch der Bark "Pudel" hatte ein Lied aus dem Singspiel "Die Wiener in Berlin" von Karl von Holtei (1798-1880) textlich umgewandelt ("In Schönbrunn, sagt er"); das Singspiel wurde 1824 uraufgeführt. Die letzte Strophe eines komischen Liedes lautete: "De Kombüs', seggt er, ös man klein, seggt er, allens ös, seggt er, piek onn fein, seggt er, wer rinnkemmt, seggt er, ward gerufft, seggt er, onn öck sett em, seggt er, anne Luft."

Von den Schiffsjungen wurde verlangt, den Großmast, also den mittleren Mast einer Dreimastbark oder den hinteren Mast einer Brigg, ehrerbietigst zu grüßen, wenn sie an Bord kamen, so wie eine höchst respektable Autorität. Der Großmast trug immerhin die größte Segelfläche, wovon die Geschwindigkeit des Schiffes in hohem Maße abhängig war. Doch scheint sich in diesem Brauch auch etwas Irrationales widerzuspiegeln.

Der Schiffsjunge oder Halbmann wurde gleich zu Beginn seiner Arbeit auf einem Segelschiff wenig geschont. Man setzte voraus, daß die Jungen aus den Hafenstädten stammten und sich zu Hause während der Winterlage der Schiffe in den Takelagen getummelt hatten; andere Jungen nahmen die Reeder auch gar nicht an. Sie mußten, für uns Heutige ganz unbegreiflich, zu Dritt in die Wanten klettern, bis zu 30 Meter hoch, um die Royalsegel (Reuls) loszumachen, die oberen Rahsegel.

Doch gab es für die Jüngsten an Bord die Schutzmaßregel, daß sich diese nur auf der Leeseite des Schiffs bewegen durften, der Seite, die dem Wind abgekehrt war. So waren sie vor der Gewalt der Elemente und der Gefahr, bei Sturm über Bord gespült zu werden, besser geschützt als die Matrosen, die auch auf der Luvseite gingen. Hierzu muß gesagt werden, daß Seeleute fast nie schwimmen konnten. Es hieß, das Schwimmen würde die Qual des Ertrinkens nur verlängern.

Die größte Gefahr für den Janmaat stellten die Brecher dar, die Wellenberge, deren Kämme oft genug gewaltsam über ein Schiff hereinbrachen. Der Seemann, der solch ein drohendes Unheil in der aufgewühlten See heranrollen sah, schlug drei Kreuze in die Luft und murmelte: "Onde dorch!" Mit dem Kreuzschlagen scheint sich eine ältere Form der Beschwörung des Bösen verbunden zu haben. Die alten Preußen, die schon jahrhundertelang Seefahrt betrieben hatten, stellten sich den Gott der Schiffleute, Bardoayts mit Namen, als alten Mann mit grünem Bart vor, der auf dem Wasser unterwegs war. Im Zorn kehrte er sein Gesicht gegen ein Schiff und blies es um. Solche mit Angst behafteten Vorstellungen von überirdischen Mächten aus heidnischer

Vorzeit wurden erstmalig 1530 aufgezeichnet, und sie haben teilweise noch im 18. Jahrhundert in den Bräuchen der Seefahrer fortgelebt.

Für den Kapitän eines Segelschiffs gab es kaum etwas Bedrückenderes als eine tagelang anhaltende Windstille. Dann wanderte der Schiffsführer unruhig auf dem Achterdeck auf und ab und prüfte unablässig die Wetterlage auf ein Zeichen für eine bevorstehende Veränderung. Bisweilen murmelt er leise, um nicht für bei dem abergläubischen Gehabe ertappt zu werden, "Pst, pst! Komm Bris, komm!" Oder er versuchte, durch Kratzen am Mast den Wind herbeizulocken, wobei aber das richtige Maß einzuhalten war - um nicht aus Versehen einen Sturm heraufzubeschwören. Es durfte zudem nur am Besan- oder Vordermast gekratzt werden, da man diesem seit alter Zeit jene besondere Fähigkeit beimaß.

Ratten gab es auf jedem Segelschiff, und es soll Kapitäne gegeben haben, die den gefährlichen Nagern Schälchen mit Wasser zum Trinken aufstellen ließen. Es kam nämlich vor, daß durstige Ratten die Planken eines hölzernen Schiffs durchnagten, um an Wasser zu gelangen, und so ein Leck in der Bordwand verursachten. Dann war es bald so weit, daß das Schiffsvolk an den Pumpen schuften mußte, oftmals bis zum Umfallen. Erst wenn die Pumpen "lurkten", also das gewisse gurgelnde Geräusch von sich gaben, war die Bilge, der unterste Schiffsraum, leer.

Ein Ruf einfachster Art, wie er auch bei geblasenen Signalen der Marine oder des Landheeres üblich war, der aber auch an kirchliche Psalmodien erinnert, wurde des Nachts in Königsberg-Haffstrom auf einem verankerten Schiff gehört. Eine Wache stand bei der Achterlaterne am Heck und sang alle halbe Stunde, also alle Glasen: "Opp Achterdeck ös allet woauhl: Laterne bräennt!" Der Doppellaut "woauhl" und "bräennt" kennzeichnet den Dialekt, der in Haffstrom gesprochen wurde.

Seefahrt damals: Die Brigg "Braunsberg", die in der gleichnamigen ostpreußischen Stadt beheimatet war Foto: Archiv


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