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19.02.05 / Das Märchen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 19. Februar 2005

Das Märchen von des Königs Berg
von Regina Willusches-Wiechers

Es war einmal ein Land, nach Osten hin, im hohen Norden, so schön, daß jene, die dort lebten, bis heute davon träumen. Ein weites Land, unendlich wie der Horizont, geheimnisvoll wie seine dunklen, rauschenden Wälder, durch-zogen von kristallnen Seen und Flußläufen. Ein Land, beschwingt wie seine milden Hügel im Frühling, golden und schwer wie alle Felder vor der Ernte, schweigsam wie seine lauschenden Elche im Unterholz, rauh und klar wie seine winterlichen Sternennächte. Das Besondere aber waren seine gütigen Menschen, womit es eine Bewandtnis hatte, und davon will ich erzählen.

Eines Tages begab sich ihr König unweit des Meeres auf eine kleine, von einem munteren Flüßchen umsäumte Anhöhe, damit ihn jedermann im Lande sehen und hören konnte. "Fleißiges, treues Volk", so sprach der fürsorgliche Herrscher, "ich will euch ein Geschenk überreichen. Ihr habt im Laufe der Jahrhunderte eine Ordnung miteinander gefunden, die es möglich machte, zufrieden zu leben. Wir haben versucht, uns gegenseitig wertzuschätzen, verantwortlich füreinander zu sein, jeden nach seiner Façon selig werden zu lassen, wissensdurstig zu bleiben, aufrecht zu gehen und aufrichtig zu denken, eigenverantwortlich und hilfsbereit zu sein. Darum habe ich unsere großen Denker veranlaßt, diese neuen Gesetze aufzuschreiben."

Man nannte diese Gesetze von nun an "Tugenden". So wurden jene, die sich daran hielten, noch friedlicher, freundlicher zu den Nachbarländern, noch zugewandter, aufrichtiger, noch fleißiger und gut, und lebten beachtliche Zeiten würdevoll miteinander in ihrem Paradies, Richtung Osten, hoch im Norden.

Eines Tages, lange nachdem ihr König gestorben, zogen laute Männer übers Land. "Hört her", schrieen sie bei strammer Musik, "was lebt ihr hier so freundlich vor euch hin? Das ist doch überaus dumm. Euer Land könnte viel größer sein. Wenn ihr nicht euren Nachbarländern zuvorkommt, holen die sich euer schönes Land und werden alle töten."

Da erschraken die Bewohner des kleinen Paradieses. Und da sie keine Unwahrheiten kannten, glaubten viele den wilden Männern. Einige wurden starr vor Schreck, andere schüttelten nur ungläubig die Köpfe. Manche aber rannten den falschen Herrschern nach, dienten wie stets besonders treu und verläßlich, überzeugt und stark und fleißig und hilfsbereit, denn das konnten sie ja gut, und genau das machten sich die Verführer zunutze.

Ein furchtbares Kriegsgeschrei und Töten unter den Völkern begann und breitete sich mehr und mehr aus. Jeder kämpfte gegen jeden. Die Tugenden wurden offiziell abgeschafft. So galt wer ehrlich lebte, als dumm, wer hilfsbereit, als noch dümmer, wer andere wertschätzte, wurde eingesperrt, nur noch eine einzige Meinung wurde akzeptiert. Die Verantwortung übernahmen andere.

Eine kleine Gruppe versuchte unter Einsatz des eigenen Lebens, die bösen Herrscher zu stoppen. Vergebens! Und so nahm die Zerstörung des freundlichen Zusammenlebens ihren schlimmen Verlauf.

Im Zuge dieses Schlacht- und Machtgetöses tobten Gegenhorden übers Land des alten Königs, besetzten und zerbombten ganze Städte, Haus und Hof, verbrannten Mensch und Tier und vertrieben Millionen Bewohner aus dem zugeschneiten Paradies, Richtung Osten, hoch im Norden.

Gerettete aber trugen manche Tugend in ihren Herzen mit sich in die Fremde. Versuchten Wertschätzung, Hilfsbereitschaft und die Liebe zu ihrem Paradies weiterzugeben. Aber die Zeiten wogten nicht viel besser über die Welt.

Selbstsüchtige schrieen: "Weg mit den ganzen Tugenden, weg mit dem starken Paradies, wo das Volk selbst denken konnte, Richtung Osten, hoch im Norden. Es ist viel bequemer, nicht die Wahrheit zu leben, die anderen dumm zu halten, sich nicht zu kümmern. Das ist ja lästig, sich verantwortlich zu zeigen, das kann man vergessen."

Und so ist das Durcheinander und die allgemeine Mißgunst bestehen geblieben, landauf, landab. Bis heute darf des Königs Berg nicht mehr Königsberg heißen, damit niemand auf die Idee käme, die verlorengegangenen Tugenden zu suchen.

Doch, wenn sie nicht gestorben sein sollen, dann versuchen wir die Tugenden zu beleben, noch heute.


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