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05.03.05 / Einfach fortgehen? / Gabriele Lins macht sich Gedanken übers Altern

© Preußische Allgemeine Zeitung / 05. März 2005

Einfach fortgehen?
Gabriele Lins macht sich Gedanken übers Altern

Marga Winter hat ihre Freundinnen eingeladen. Sie kommen gern, weil sie nichts anderes mehr haben als so einen kleinen Kaffeeklatsch. Mathilde und Katharina ächzen als erste heran. Rheuma. Die anderen folgen, keuchen mit Mühe die drei Treppen hinauf. Der Fahrstuhl ist mal wieder kaputt. Nacheinander sinken sie in Sofa und Sessel. Geschafft! "Hier, Billa, ein Kissen, leg das Bein hoch!" Nur Elfriede ist noch fit. "Nein, ich habe nirgendwo Schmerzen. Mir geht es relativ gut." - "Du Glückliche!"

Mit strahlenden Gesichtern warten sie auf den Kaffee. Milly erzählt gerade, sie habe sich mit einem Computer eingelassen, so einem neumodischen Ding. Na ja, sie will ihr Gehirn aktivieren, dem Gedächtnisschwund vorbeugen.

"Mmmh, der Kuchen ist wunderbar! Ich backe ja nicht mehr. Ist mir zu aufwendig!" Ilse schaufelt schon das zweite Stück Sahnetorte in sich hinein. Marga stöhnt leise. Der Rükken. "Man ist eben keine 70 mehr, nicht wahr!" Hilde schmatzt: "Oh, Marga, schmeckt das mal wieder gut!"

Als das Kaffeegeschirr weggeräumt ist, beginnt das Erzählen. Alle Bekannten werden aufs Korn genommen. Tut der Seele gut, na klar. "Die Kinder und Enkel - ach ja, wie wenig Zeit haben sie für uns." Das kennt man. "Willst du noch Kaffee, Wilhelmine?" - "Oh, gern! Schlafen kann ich sowieso nicht mehr gut. Das Altern ist halt ein schwieriger Prozeß." - "Aber wir sind noch da", lacht Maria, "uns gibt es noch. Wir sind nicht zu übersehen." Zustimmendes Nikken. Die alte Standuhr dröhnt. "Was, schon acht?" Aber sie gehen noch lange nicht. Es wartet ohnehin keiner auf sie. "Noch ein Gläschen?" - "Klar!" Marga fängt an zu singen, zitterige Stimmen fallen ein. Sie können noch alle Strophen des alten Volksliedes. Hildegard schnarcht leise. Ihr schmaler Kopf mit den weißen Löck-chen ist fast auf ihre Brust gesunken. "Na, das ist mir eine." - "Ach, laßt sie. Mit 92 darf man das."

Und dann gehen sie doch, eine nach der anderen, manchmal auch zwei zusammen. Beim Abschied fallen sie sich um den Hals. "War wieder schön bei dir, Marga!" - "Der nächste Nachmittag findet natürlich bei mir statt", verspricht Maria.

Wieder allein. Marga sinkt auf ihren Sessel und atmet tief, dann greift sie nach dem Tablettenröhrchen und dem bereitgestellten Glas, holt noch einmal tief Luft und schüttet das Wasser in die Spüle und die Medizin in den Eimer für Sondermüll. Eigentlich wollte sie heute gehen, nachdem die Freundinnen weg sind, sich davon stehlen für immer! - Warum? Weil sie sich so nutzlos und abgeschrieben fühlt. Was soll man in einer Welt, in der gebrechliche Menschen nur noch eine Last sind? Aber Billa, die stets lebenslustige Billa mit ihrem kranken Bein hat eben noch gesagt, daß das Dasein immer lebenswert ist, solange man noch Freunde hat.

Marga schüttelt über sich selbst den Kopf. Heute morgen noch hat sie tatsächlich geglaubt, sie sei die einzige, die krank und unnütz ist. Aber vorhin hat sie gemerkt, daß sie noch gebraucht wird, von anderen Menschen, die auch allein sind. "Ich war undankbar, lieber Gott." Sie findet sich plötzlich auf den Knien vor dem schönen alten Kreuz im Schlafzimmer wieder. "Ich nehme mein Leben von neuem aus deiner Hand."


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