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12.03.05 / Die Zukunft besaß einen Namen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 12. März 2005

Die Zukunft besaß einen Namen
von Renate Dopatka

Als er am Abend noch einmal auf den Balkon hinaustrat, spürte er die Veränderung. Sachtes, zärtliches Wehen streifte seine Wangen, und obwohl die Luft noch frisch war, getränkt von der Kühle winterstarrer Erde, trug das, was ihm da so sanft durchs schlohweiße Haar fuhr, den Keim des nahenden Frühlings in sich.

Sein Herz schlug unwillkürlich schneller. Jedes Jahr aufs neue rief der erste milde Hauch in ihm eine gewisse Erregung hervor. Eine Art freudiger Erwartung erfüllte ihn, eine Sehnsucht nach - ja, wonach eigentlich? Neues, Aufregendes würde kaum mehr in sein Leben treten und doch schien ihm jeder Frühling wie eine Verheißung, die Verheißung, noch einmal etwas unerwartet Schönes, Bezauberndes erleben zu dürfen.

Er mußte lächeln. Was gab es Schöneres, Berauschenderes, als sich zu verlieben? Auch ihm war dieses Glück widerfahren; vor undenklichen Zeiten hatte auch er sich verliebt, in einer Weise, wie es nur einmal im Leben geschehen kann. Und so war es wohl die Erinnerung an jenen wundersamen Vorfrühlingsabend, aus der sich seine besondere Beziehung zu dieser alles erweckenden Jahreszeit speiste. Wäre es damals im Herbst gewesen, hätte vermutlich der Anblick sich lichtender Baumkronen alljährlich sein Herz berührt. Dem ersten Frühlingshauch hätte er in diesem Fall dann nicht mehr entgegengebracht als leise Dankbarkeit, daß der Winter endlich seinen Hut nahm.

So aber stand er in der Abendkühle auf dem Balkon, hielt sein Gesicht dem liebkosenden Wind entgegen und durchlebte längst Vergangenes ... Gerade einmal 19 Jahre alt war er gewesen, damals, als sich die dunklen Wolken am heimatlichen Horizont immer mehr verdunkelten und die Zukunft nur noch aus einem zittrigen Fragezeichen bestand.

Nach einer Granatsplitterverletzung und mehrwöchigem Lazarett-aufenthalt war ihm in jenen Märztagen noch ein kurzer Genesungsurlaub bewilligt worden. Wie weitete sich seine Seele, als die Landschaft vertrauten Charakter annahm! Da war er wieder: der hohe ostpreußische Himmel, unter dem die Gedanken zur Ruhe kamen, sich ordneten und scheinbar Wichtiges in Bedeutungslosigkeit versank.

Daß der Zug mit großer Verspätung eintraf, konnte ihn nicht mehr erschüttern, zumal er das Glück hatte, von einem Fuhrwerk mitgenommen zu werden, so daß es nur noch ein kleiner Fußmarsch bis nach Hause war. Trotz seiner Müdigkeit genoß er jede Sekunde dieser Nachtwanderung. Wie tröstlich wirkte der weite, sternenübersäte Himmel, wie wohltuend die tiefe Stille über dem verschneiten Land!

Noch herrschte Winter, stand ein kalter, silbrigweißer Mond über dem Dorf, der Frühlingsgefühle gar nicht erst aufkommen ließ. Daheim, im Elternhaus, empfingen ihn "nur" Mutter und Großmutter. Alle übrigen Familienmitglieder waren, in welcher Form auch immer, ins Kriegsgeschehen involviert. Aber es gab ja noch Erika, die Älteste der kleinen Geschwisterschar! Gleich am nächsten Tag machte er sich auf den Weg ins Nachbardorf, wo seine Schwester seit ihrer Heirat lebte. Sein Schwager, Lehrer an der einklassigen Schule, war gleich zu Beginn des Krieges eingezogen worden. Aus Briefen wußte er, wie schwierig sich der Unterricht nun gestaltete. Lediglich Aushilfskräfte schienen den Betrieb noch aufrechtzuerhalten. Um so größer war seine Überraschung, als Erika ihn nach tränenreicher Begrüßung in die Wohnstube führte und er dort nicht nur seinen kleinen Neffen vorfand, sondern auch eine junge Frau, die Erika stolz als die neue Lehrerin vorstellte.

Ihre Näharbeit beiseite legend, reichte ihm die junge Frau mit ruhigem Lächeln die Hand. Später konnte er sich nicht mehr erinnern, wie sich ihre Hand in der seinen angefühlt hatte, wie zart oder fest ihr Druck gewesen war. Er sah nur ihre Augen, hörte nur ihre Stimme, wie sie "angenehm" und "Die Ähnlichkeit ist unverkennbar" sagte, und als sie schließlich mit der Bemerkung, nicht länger stören zu wollen, aus dem Zimmer ging, verspürte er neben einem kleinen schmerzhaften Stich seltsamerweise auch so etwas wie Erleichterung. Zuviel stürmte da auf ihn ein und er wußte nicht, ob er bereit war - bereit, sich so zu verlieren ...

Seine Schwester schien zu ahnen, was in ihm vorging. Ohne daß er Fragen gestellt hätte, begann sie von ihrem "Pensionsgast" zu erzählen: daß die junge Dame Rheinländerin sei, hier, im tiefsten Ostpreußen, ihre erste Stelle als Lehrerin erhalten habe und jetzt eins der freistehenden Mansardenzimmer bewohne. "Sie heißt übrigens Elisabeth. Ich finde, der Name paßt zu ihr, er hat einen so weichen, sanften Klang." Ja, der Name paßte vorzüglich und er ging ihm den ganzen Abend nicht aus dem Kopf.

Während Erika Kaffee brühte und Kuchen anschnitt und sein Neffe immer neue Märchenbücher zum Vorlesen heranschleppte, versuchte er, sein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen. Bald war sein Urlaub zu Ende. Bis dahin mußte er Klarheit gewonnen haben, Klarheit nicht nur über seine eigenen Gefühle.

In den nächsten Tagen lernte er Elisabeth immer besser kennen. Sie entdeckten viele Gemeinsamkeiten; beide liebten sie Bücher und Musik, und ein ruhiges Gespräch, ein Austausch der Gedanken war ihr genauso wichtig wie ihm. Es freute ihn, daß Elisabeth sich seiner Nähe nie zu entziehen versuchte, indem sie vorgab, noch Hefte korrigieren zu müssen oder gar Kopfschmerzen vorschützte. Ob es eine Ausfahrt mit dem Pferdeschlitten war, die Einladung seiner Mutter zum Sonntagskaffee oder die gemeinsamen Abende bei Glühwein und einer Partie Schach in Erikas guter Stube - jede Minute brachte sie einander näher. Und was - zumindest für ihn als Ostpreuße - ebenso von Belang war: Elisabeth mochte die stille Landschaft, die sie da nun täglich vor Augen hatte ...

Der letzte Abend kam und mit ihm sein letzter Besuch im Lehrerwohnhaus. Erika, die einfühlsamste aller Schwestern, hatte sich schon drinnen von ihm verabschiedet und sich dann mit dem Hinweis, nach dem Kleinen sehen zu müssen, ins Kinderzimmer verzogen. So blieb es Elisabeth vorbehalten, ihn nach draußen zu begleiten. Dort schien sich in den letzten Stunden eine Menge getan zu haben. Die ganze Woche über hatte kalter Ostwind in den Ofenröhren geheult und Schnee- und Graupelschauer waren die Regel gewesen. Doch als sie jetzt Seite an Seite auf die Veranda traten, roch die Luft wohl noch nach Schnee, aber von der schneidenden Kälte, die das Atmen erschwerte, war nichts mehr zu spüren. Der Wind hatte auf Süd gedreht. Weich strich er über ihre Gesichter, von lauen Frühlingsnächten kündend, erregend und betörend zugleich.

Sein Blick wanderte hinauf zu dem warmen, satten Gelb des Mondes. Nie zuvor hatte er eine solche Nacht erlebt, nie zuvor dieses gewaltige Sehnen in sich verspürt. Ein Sehnen, das körperlichen Schmerz verursachte und doch höchstes Glück in sich barg. Ihre Augen sagten ihm, was er wissen wollte. Es hieß Abschied nehmen, aber der Moment, den er gefürchtet hatte, versorgte ihn jetzt mit neuer Kraft. Die Zukunft besaß einen Namen ...

"Komm herein, du wirst dich erkälten." Vom Klang der sanft mahnenden Stimme aus seinen Träumen geweckt, streckte er lächelnd den Arm nach seiner Frau aus: "Ich glaube, der Frühling ist im Anmarsch. Komm nur, überzeug dich selbst! Die Luft ist ganz weich."

Zögernd betrat sie den Balkon, und gemeinsam blickten sie hinaus auf das dunkelnde Land. Drüben, auf dem träge dahinfließenden Strom, blinkten die Lichter der Frachtschiffe, nahm die Luft den Geruch des Wassers auf. Seine Hand suchte die ihre. Das Land, an dem sein Herz hing, hatte er verloren. Doch die Liebe seines Lebens war ihm geblieben. Seite an Seite sahen sie einem neuen Frühling entgegen ...

Winterlandschaft: Die eisige Luft läßt Frühlingsgefühle gar nicht erst aufkommen, oder doch? Wie schnell sich alles ändern kann, erzählt Renate Dopatka Nach einem Gemälde von Sigi Helgard


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