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12.03.05 / Schreie aus der Geisterstadt / Der Königsberger Siegfried Gronau lebte lange Jahre als "Wolfskind" in Litauen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 12. März 2005

Schreie aus der Geisterstadt
Der Königsberger Siegfried Gronau lebte lange Jahre als "Wolfskind" in Litauen

Was war das jedesmal für eine Aufregung, wenn Siegfried Gronau mit der Straßenbahn Nummer 1 zur Schule fuhr. Von der Barbarastraße im Stadtteil Ponarth war es zudem nicht weit zu den Eltern des Vaters Ernst Artur, einem Postbeamten. Auch die Eltern der Mutter Erna Lina, Oma und Opa Ganguin, sowie die Tante Elfriede wohnten in Königsberg. Der 1936 geborene Siegfried hatte es als Junge zwischen drei Schwestern, die eine zwei Jahre älter, die anderen beiden drei und fünf Jahre jünger, nicht immer ganz leicht, doch da zahlreiche Jungs in der Nachbarschaft wohnten, hatte Siegfried genügend Möglichkeiten, den Puppenstuben zu entkommen.

Doch schon früh zerbrach die heile Kinderwelt, denn 1943 kam die Nachricht, daß der Vater bei Leningrad gefallen sei. Von da an besuchte die Mutter mit den Kindern häufig die nahegelegene Kirche mit dem Friedhof, zeigte auf die Gräber und erklärte den Kindern, daß die Verstorbenen in den Himmel kämen, wo es keine Not, keinen Hunger und vor allem keinen Krieg gäbe.

Letzterer veränderte ab 1944 mit den Bombenangriffen auf die Pregelstadt spürbar den Alltag der Kinder. Bei einem schweren Luftangriff traf eine Bombe das Haus über dem Luftschutzkeller, in dem die Familie Schutz gesucht hatte, und das Gebäude stürzte ein. Nur durch Glück überlebten die Gronaus unverletzt.

Doch die Lage in der Stadt wurde immer unsicherer, und so verließ die Mutter Erna Lina mit ihren Kindern zu Fuß die Stadt. Viele Tage war sie mit ihnen unterwegs, doch hin und wieder nahmen vorbeiziehende deutsche Soldaten die Kleinen auf ihren Militärfahrzeugen mit, und manchmal gaben sie ihnen sogar Schokolade.

Inzwischen war ein sehr kalter Winter angebrochen. In einem kleinen Dorf bezogen die Evakuierten Heiligabend Quartier. Sehnsüchtig blickten die Kinder auf den geschmückten Tannenbaum in der fremden Stube. Die Bewohner des Hauses ließen die Kinder jedoch nicht vergebens auf den Weihnachtsmann warten. Jedes der Geschwister erhielt ein kleines Geschenk, und für einen Augenblick war ihre Kinderwelt wieder in Ordnung.

Am nächsten Tag ging es wieder weiter. Das in der Nacht darauf bezogene Quartier ging jedoch lichterloh in Flammen auf.

In Pötschendorf im Kreis Rastenburg fand die Familie dann mit über 50 anderen Personen auf einem Bauernhof Unterschlupf. Eine Einheit deutscher Soldaten lag auch im Dorf, die Front schien nicht weit entfernt, das nahe Kampfgetöse wurde täglich lauter. Bomben wurden auf das Dorf abgeworfen. Die Erde bebte. Eine 50 Kilogramm schwere Bombe fiel auf das Haus, doch Gott sei Dank ein Blindgänger.

Wie in Trance erlebten sie diese schrecklichen Tage, bis das Unvermeidliche geschah; die ersten Russen betraten Pötschendorf. Doch Wunder über Wunder, statt der erwarteten Menschenfresser sah Siegfried ganz normale Männer. Diese klopften höflich an und baten um alles, was sie brauchten. Aber nach drei Tagen wurde es plötzlich anders. Da brachen die Russen zu ihren Raubzügen auf.

Erst war es nur der Honig aus den zahlreichen Bienenstöcken der Bauern, doch schon bald mußten die Kinder mit ansehen, wie die Fremden den Frauen, Müttern, Großmüttern und Mädchen, die Kleider vom Leib rissen und sie brutal vergewaltigten. Danach wurden die Kornkammern geleert und das Vieh mitgenommen. Die Tiere, die für sie keinen Nutzen hatten, wurden erschossen, alles für sie nicht Verwendbare wurde zertrümmert. Doch am meisten staunte der achteinhalbjährige Siegfried über die Brutalität der Soldatinnen, die noch weniger Erbarmen kannten als ihre männlichen Kollegen.

Erst als den Deutschen jegliche Lebensgrundlage genommen war, zog die Rote Armee ab. Erna Lina entschied sich, mit ihren Kindern zurück nach Königsberg zu gehen, wo ihre Eltern inzwischen Obdach in einer Kleingartensiedlung gefunden hatten. Mit einem kleinen Handwägelchen, in dem die jüngste Schwester saß, ging es durch menschenleere Orte vorbei an geisterhaft in den Himmel ragenden Ruinen. Sie ernährten sich von am Straßenrand liegenden verendeten Tieren.

Nach drei Tagen erreichte der kleine Treck Königsberg, doch ein Zurück in das unversehrte Haus der Familie war nicht möglich, da die Russen es besetzt hatten. Auch bei den Großeltern im Schrebergarten gab es kein Unterkommen. Die Oma lag zum Schrecken der Kinder entsetzlich geschwächt, elend und verlaust auf ihren Lumpen und verstarb noch in der darauffolgenden Nacht.

Schließlich fand die Familie in einer Kellerruine einen Schlafplatz, doch der Hunger trieb sie hinaus immer auf der Suche nach Eßbarem. Bis die Mutter eine Stelle als Putzfrau bei den Russen fand, hatten die Kinder im Müll nach Lebensmitteln gesucht, nun brachte Erna Lina Brot und halbleere Konservendosen als Lohn nach Hause.

Doch das, was sie hatten, war zu wenig zum Überleben. Im Winter 1945/46 starb zuerst die jüngste Schwester im Alter von vier Jahren. Sie starb ganz still in Siegfrieds Armen auf dem gemeinsamen Schlafplatz, der nicht mehr als eine Ansammlung von schmutzigen Lumpen war. Auch die zweite Schwester starb kurz darauf total entkräftet. Sie konnte die Krumen, die man ihr reichte, nicht mehr zu sich nehmen, und wollte nur noch Wasser trinken. Sie entschlief völlig aufgedunsen. Ärztliche Hilfe gab es nicht. Auch eine Kiste zur Bestattung war nicht aufzutreiben, und so mußte die Sechsjährige in einem Massengrab beerdigt werden.

Die älteste Schwester war von Natur aus die kräftigste, doch mit zwölf Jahren in einem Risikoalter. Eines Tages wankte sie blutüberströmt, laut schreiend und völlig von Sinnen mit schwersten Verletzungen im Unterleib in die Ruine. Sie verblutete in ganz kurzer Zeit.

Als Erna Lina auch noch vom schrecklichen Tod ihrer Ältesten erfuhr, verlor sie jeglichen Lebensmut. Von Hunger und Kummer unglaublich geschwächt, vegetierten Mutter und Sohn in der Ruine ihrem Ende entgegen. Als bekannt wurde, daß es in einer kleinen Kirche Essen gäbe, rafften die beiden sich ein letztes Mal auf und wankten über hölzerne Planken über den Pregel der besagten Kirche entgegen. Doch was mußten sie da sehen: Die Menschen dort aßen Leichen. Voller Entsetzen riß Erna Lina ihren Sohn an sich, und zusammen stolperten sie fort von dem Ort des Grauens.

Während die Mutter nur noch mit ihrem Sohn gemeinsam sterben wollte, verspürte Siegfried noch einen Rest Lebenswillen in sich. Unter lautem Schreien seiner entkräfteten Mutter verließ er diese, die nun allein in den Tod gehen mußte, wann und wie weiß der Sohn bis heute nicht.

Am Südbahnhof hatten sich mehrere Deutsche versammelt, die nach Litauen wollten, wo es angeblich Nahrung gab. Von außen an einen Zug geklammert, ging es raus aus der Geisterstadt Richtung Gumbinnen, wo Siegfried von Gleisbauarbeitern Kartoffeln bekam. Danach ging es weiter nach Kaunas. Drei Tage dauerte die Fahrt. Dort erblickte der Waisenjunge wie im Traum schließlich die Silhouette einer unzerstörten Stadt. Die sauberen, gut gekleideten Menschen dort erschienen ihm wie Engel, bis er den ersten Russen erspähte. Da wußte Siegfried, daß er nicht im Himmel sein konnte. Von da ab begann das Versteckspiel vor den Russen, welche die bettelnden, im Müll wühlenden und in Kellern schlafenden Deutschen einfingen und zum Abtransport zusammentrieben.

Eines Tages wurde Siegfried jedoch von einer Frau in deutscher Sprache angesprochen. "Komm zu mir, Junge, ich baue dich wieder auf." Sie nahm ihn mit heim, badete ihn zum ersten Mal nach Jahren, gab ihm zu Essen und machte ihm ein sauberes Bett zurecht. Schon am nächsten Tag endete jedoch das Paradies. Als die Frau sah, daß der Junge ins Bett genäßt hatte und voller Läuse war, schickte sie ihn wieder fort, und der tägliche Überlebenskampf begann aufs neue.

Zusammen mit einem älteren Mädchen entschied sich Siegfried, Kaunas zu verlassen und aufs Land zu gehen. Etwa eine Woche zogen sie entlang der Memel, bis sie einen Hof fanden, auf dem die Bäuerin bereit war, Siegfried als Stalljungen zu beschäftigen. Doch die Arbeit war für den Geschwächten zu schwer. Als sie ihn verprügeln wollte, lief er fort, fand aber bald Arbeit bei einer liebevollen Bauernfamilie, bei der er zwei Jahre bleiben konnte und die er noch heute fast jedes Jahr besucht.

Sie heilten ihn von seinem eitrigen Ausschlag am Körper, gaben ihm ein richtiges Bett und täglich gutes Essen. "Er ißt wie drei Männer", sagte die Bäuerin stets lachend. Auf dem Hof, etwa 15 Kilometer von Kaunas entfernt, war ein Lehrer untergebracht, der Deutsch sprach und dem Jugendlichen nach seinem Tagewerk als Hirte die litauische Sprache lehrte und das Schachspiel beibrachte.

1949 jedoch brachen düstere Wolken über das kleine Idyll herein, denn im Zuge der Kollektivierung durch die Sowjets wurde die Bauernfamilie enteignet und Siegfried zu einem Kleinbauern geschickt, der noch nicht von Enteignung betroffen war. Dieser verlangte, daß Siegfried sich von nun an Kasimir Matschulskis nannte und seine deutsche Herkunft verbarg, da es verboten wurde, deutsche Kinder zu beherbergen.

Von nun an mußte der Junge sich vor der Öffentlichkeit verstecken und arbeitete vorwiegend im Wald. Immer wieder wechselten seine Arbeitgeber, so daß er insgesamt bei neun Bauern in der Gegend gearbeitet hat.

Im Jahre 1956, im Alter von 20 Jahren, ließ sich Siegfried endlich registrieren. Als Geburtsort gab er Königsberg an und erhielt einen Paß als Sowjetbürger. In einer Ziegelei im Stadtbereich von Kaunas fand er Arbeit, wo er so fleißig war, daß man ihn trotz fehlender Schulbildung zum Kranführer ausbilden ließ.

Nach drei Jahren harten Lernens bestand der Zielstrebige die Kranfahrerprüfung, konnte jedoch nicht lange in seinem erkämpften Beruf arbeiten, da ihn die Russen als vermeintlichen Sowjetbürger zum Wehrdienst in der sowjetischen Armee einzogen. Widerstand war zwecklos.

Zunächst ging es für 38 Monate nach Murmansk ans Nordmeer, wo die Sonne nicht mehr aufgehen wollte. Gleich am Anfang erlitt er bei dem starken Frost schwere Erfrierungen an beiden Füßen. Nach scheinbar einer Ewigkeit durfte Siegfried wieder zurück nach Kaunas, wo ihn seine alte Firma wieder anstellte.

1962 heiratete Siegfried als Kasimir eine Litauerin, der er erst nach der Eheschließung seine deutsche Herkunft gestand, die sie jedoch nicht abstieß. Von nun an nannte sie ihn nur noch Siegfried.

Nach einem Jahr kam der Sohn Artur zur Welt. Und da das gemeinsam bewohnte Zimmer bei ihren Eltern somit zu eng wurde, baute er eine kleine Wohnung im Haus von Verwandten seiner Frau aus, wo sie neun Jahre wohnten und er für seine Mittlere Reife lernte, die er in litauischer Sprache in Abendkursen absolvierte.

Immer wieder erzählte Siegfried seiner Frau von seiner ostpreußischen Familie. Unter anderem auch von seiner Tante Elfriede, die schon 1944 von Königsberg nach Westdeutschland geflohen war. Als eine bekannte deutschstämmige Familie in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelte, bot sie an, nach der Tante zu suchen. Schon zwei Monate später kam Post von Tante Elfriede nach Litauen. Sie war mit Hilfe des Deutschen Roten Kreuzes gefunden worden. Voller Elan besorgte die Tante eine Kopie der Geburtsurkunde ihres Neffen, damit dieser wieder seine wirkliche Identität zurückerhielt und ein Visum nach Westdeutschland beantragen konnte, was allerdings aufgrund von Komplikationen - eine Tante galt nicht als Verwandte, die einen Nachzug begründet - zwei Jahre dauerte.

Nur durch einen Trick erhielt die kleine Familie Gronau endlich ihre Ausreisepapiere und erreichte am 27. September 1973 das Lager Friedland und am 2. Oktober die Tante in Flensburg. Die Wiedersehensfreude mit der Tante, die inzwischen schon eine Wohnung besorgt hatte, war riesengroß. Auch eine Arbeitsstelle fand sich schnell bei der Werft FSG, bei der Siegfried bis zu seiner Verrentung 1996 beschäftigt war.

1979 bekam Siegfried ein Schreiben vom Amt für Vertriebene und Kriegsgeschädigte. Er wurde gefragt, ob er Mitglieder einer Familie Passenheim aus der Barbarastraße in Königsberg kenne. Da erinnerte er sich an gemeinsame glückliche Kindertage in Königsberg, an Spiele am Überschwemmungsteich. Mit Hans, Kurt und Erna fand Siegfried ein weiteres Stück seiner Vergangenheit wieder.

Heute lebt Siegfried Gronau mit seiner Frau im 1984 gemeinsam erbauten Haus in Großsolt und freut sich immer über die Besuche von Artur und der 1974 schon in der Bundesrepublik geborenen Tochter Kristina. Bis heute ist er seiner 1976 verstorbenen Tante Elfriede dankbar, daß sie ihm sein glückliches Leben in Deutschland ermöglicht hat.

aufgezeichnet von R. Bellano

Ein Bild aus glücklichen Tagen: Die Familie Gronau Anfang 1940, als die Jüngste noch nicht geboren war. Foto: privat


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