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19.03.05 / Ukraine: Ein Spielball Polens? / Wem eine selbständige Regierung des ehemals sowjetischen Satelliten nutzt (Teil II)

© Preußische Allgemeine Zeitung / 19. März 2005

Ukraine: Ein Spielball Polens?
Wem eine selbständige Regierung des ehemals sowjetischen Satelliten nutzt (Teil II)
von Hans Rothe

Rußland muß eine europäische Macht sein können. Es aus Europa abdrängen zu wollen, ist illusorisch. Rußland muß also eine Stimme haben können wie an der Ostsee, so am Schwarzen Meer. Dabei darf man nicht nur die genannten geschichtlichen Gründungsdaten vergessen, sondern noch weniger die Tatsache, daß Sewastopol für Russen und Rußland durch den Krimkrieg (1854 / 55) und den Pariser Frieden von 1856 zu einem Symbol von Verteidigung und Erniedrigung geworden ist. Kriegsberichte von damals sind zum Teil heute noch Schullektüre; sie waren von Leo Tolstoj geschrieben. Rußland wurde damals die militärische Befahrung des Schwarzen Meeres verboten. Es war das erste Beispiel eines ungerechten Friedens der Westmächte in neuerer Zeit. Es wurde erst mit der Niederlage des Kriegsgegners Frankreich 1871 revidiert. Die jetzige Situation belebt das alte Trauma. Ähnliches gilt für Odessa. Das ist nicht sentimentale Psychologie. Wer so etwas bei einem Widersacher nicht berücksichtigt, treibt keine Realpolitik, und dafür muß in der Regel einmal bezahlt werden.

Was sind berechtigte polnische Interessen an der ukrainischen Sache? Es ist schwer, sie zu erkennen. Nach seiner historischen Erfahrung mit Rußland seit dem 16. Jahrhundert muß Polen das größte Interesse daran haben, daß Rußland nicht wieder fähig wird, in Polen einzugreifen. Es muß also eigentlich auch daran interessiert sein, den jetzigen Grenzzustand zu erhalten, in dem es ohne gemeinsame Grenze mit Rußland lebt (sieht man einmal von der Grenze zu der Enklave in Ostpreußen ab). Und jedenfalls wird es daran interessiert sein, daß Rußland ständig mit der Ukraine beschäftigt bleibt.

Das ist aber nur widerspruchsfrei, wenn Polen wirklich daran festhält, außer in Ostpreußen keine gemeinsame Grenze mit Rußland im Osten haben zu wollen. Es müßte definitiv auf seine Ostgebiete verzichten und die Existenz von Weißrußland und Ukraine garantieren. Es darf keinen polnischen Drang nach Osten mehr geben. Ist das gesichert?

Es kommt ins Spiel, daß Rußland auch gegenüber Polen berechtigte Interessen zu wahren hat. Zweimal wurde es in einem Augenblick der Schwäche von Polen überfallen, 1605 und zuletzt 1920 von Pilsud-ski, und das Ergebnis im Frieden von Riga war eine Grenzziehung gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages (Curzon-Linie). Polen hat sich neuerdings schon massiv in Litauen zugunsten der dortigen polnischen Minderheit eingemischt. In Lemberg und Galizien hat es erheblichen wirtschaftlichen Einfluß aufgebaut. Wenn nun eine Politik, Rußland ständig mit der Ukraine beschäftigt zu halten, dazu führte, daß die sehr beträchtliche russische Bevölkerung im Osten der Ukraine aktiviert wird, dazu der nichtukrainische Süden, besteht die Gefahr, daß das Land auseinanderbricht.

Das würde der Ukraine ihre Funktion als "vorgeschobene Feldwache" nehmen und Polen automatisch wieder in diese Rolle einrücken lassen. Wer garantiert dann dafür, daß Polen in einem solchen Fall nicht die Politik aufnimmt, die der letzte kommunistische Staatspräsident Jaruzelski 1988 bei einem Staatsbesuch in Lemberg formulierte: "Wo Polen leben, ist Polen"? (Nebenbei: Man stelle sich vor, Bundeskanzler Kohl hätte bei seinem Besuch in Schlesien 1990 so etwas gesagt).

Es wäre auch sehr verwunderlich, wenn in solcher Lage nicht auch Bewegung in die Nordostpreußenfrage käme. Nicht nur heimlich wird dieses Gebiet, jetzt eine russische Enklave vor der polnischen Tür, von Polen beansprucht. Es ist ja angeblich auch ein "ehemaliges Nordgebiet" Polens, und die Frage gilt in Polen als offen. Mit anderen Worten: die polnischen Interessen sind ungeklärt oder gar widersprüchlich. Feindselige Beziehungen zwischen Rußland und der Ukraine, hinter denen Polen stünde, brächten ganz Osteuropa in Unruhe und Gefahr.

Damit sind wir schließlich bei der Frage, die für uns allein wichtig ist: Was ist unser Interesse an der Sache? Man kann darüber nachdenken, inwiefern das deutsche Interesse zugleich auch ein europäisches ist. Aber Klarheit erreicht man in dieser Reihenfolge, nicht umgekehrt.

Deutschland hat, mehr als jedes andere europäische Land, nur ein fundamentales Interesse in der Sache: daß die Großmacht Rußland in den denkbaren Interessenkonflikten für uns nicht bedrohlich, sondern nach Möglichkeit mit uns befreundet ist. Das heißt, daß Rußland Deutschland ge-genüber neutral ist, in befreundeter Neutralität verharrt. Dafür gibt es zwei Nebenbedingungen.

Erste Voraussetzung für die Aufrechterhaltung dieses Interesses ist die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Ukraine. Müßte die Ukraine ihre Unabhängigkeit aufgeben und würde ein Teil Rußlands, wäre Rußland wieder bedrohlich. Überdies kann unser Grundinteresse zugleich mit einem westlichen Demokratie-Grundsatz verbunden werden: dem Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Die zweite Nebenbedingung ist: Rußland und die Ukraine können uns gegenüber jede Bedrohlichkeit nur verlieren, wenn sie nebeneinander in entschärften, freundlichen Beziehungen leben. Wir haben, auch was alle anderen genannten und angedeuteten Weiterungen betrifft, ein lebendiges nationales und europäisches Interesse daran, daß ganz Osteuropa jetzt ruhig bleibt. Das bedeutet aber, die Ukraine muß sich zu einem gerechten Ausgleich mit Rußland im Süden verstehen. Der Ausgleich muß auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung von Lebensinteressen beider erreicht werden. Ob dabei über Grenzveränderungen gesprochen werden muß, oder über exterritoriale Rechte, ist eine offene und andere Frage. Bereit sein dazu muß man.

Gewiß ist dabei, daß Deutschland und Europa eine Vermittlung nicht Polen überlassen dürfen, dessen Interessen zu unklar sind; und daß sie andererseits selber, ohne Amerika, als unparteiische Vermittler auftreten müssen, wenn es dazu kommt, daß vermittelt werden muß. Dafür reicht eine Reise- und Visadiplomatie nicht hin.


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