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02.04.05 / "Weinen um Rußland" / Ehemaliger Vorsitzender der russischen Begnadigungskommission über sein Land

© Preußische Allgemeine Zeitung / 02. April 2005

"Weinen um Rußland"
Ehemaliger Vorsitzender der russischen Begnadigungskommission über sein Land

Was ist Rußland?" fragte Puschkin. Und antwortete: "Halbwilde Völker ... ihre immer wiederkehrenden Empörungen, ihre Abneigung gegen Gesetze und Bürgersinn, ihr Leichtsinn, ihre Grausamkeit ..." Mit diesem Puschkin-Zitat beschließt Anatolij Pristawkin seine in einem Buch niedergeschriebenen Erfahrungen und Erinnerungen als Vorsitzender der Begnadigungskommission des russischen Präsidenten. Die Kommission wurde 1992 von Boris Jelzin ins Leben gerufen und Pristawkin zu deren Vorsitzendem ernannt. Seitdem hat sie - häufig gegen erbitterten Widerstand der Behörden - viel zur Humanisierung des teilweise noch mittelalterlichen Strafvollzugs beigetragen. Eines ihrer Hauptziele war die Aussetzung der Todesstrafe und Umwandlung in lebenslangen Freiheitsentzug. Das Genre seines Buches nennt Pristawkin "Weinen um Rußland". Als er sich zur Mitarbeit in der Kommission bereit erklärte, ahnte er noch nicht, welche Opfer er - genauso wie jedes andere Kommissionsmitglied - würde bringen, welchen Schmerz und seelische Belastungen er würde ertragen müssen. Es war eine Beschäftigung mit dem Abschaum der Gesellschaft, einer abgesonderten Welt, gegen die man sich schützen möchte und mit der man nichts zu tun haben will.

Als Pristawkin die Akte eines Verbrechers las, der nach seiner Entlassung zwei alte Dorffrauen umbrachte wegen 50 Rubel, die diese sich für ihre Beerdigung zurückgelegt hatten, begriff er, daß diese Welt grausam und nicht zu bessern ist. Dennoch rettete die Begnadigungskommission in vielen ähnlichen Fällen das Leben der Täter. Es gab jedoch auch Mörder, die aus Verzweiflung um ihre baldige Hinrichtung flehten.

Als Grund für die meist sinnlosen Verbrechen sieht Pristawkin den Alkoholismus und das Fehlen jeglicher Tugenden. Die Ursache für das Fehlen ethischer Werte liegen seiner Ansicht nach im Bolschewismus begründet, der von dem neuen Menschen lediglich bedingungslose Treue zum Sowjetsystem, Mut, Kraft und Kühnheit verlangte. 2001 löste Präsident Wladimir Putin die Kommission wieder auf.

Anatoli Pristawkin, 1931 bei Mos-kau geboren, verbrachte die Kriegsjahre als Waise in diversen Heimen. Er hat mehrere Erzählbände und Romane veröffentlicht, in denen er seine Erinnerungen an Hunger und Armut verarbeitet hat. Um zu überleben, mußten Kinder wie er lernen zu stehlen. Von der Gesellschaft waren sie quasi ausgeschlossen und verachtet.

Im Nachwort sagt der Autor, daß das Buch aus einem Gefühl der Ohnmacht und des Schmerzes heraus entstanden ist. Er sieht sowohl sich als auch das Land im "finsteren Tal" wandern. Seit der Zeit Puschkins habe das Land sich nicht verändert. Er geht mit seinem Land und seinem Volk hart ins Gericht, wenn er von dem "kriminellen Straflager, das Rußland heißt" spricht. M. Rosenthal-Kappi

Anatoli Pristawkin: "Ich flehe um Hinrichtung - Die Begnadigungskommission des russischen Präsidenten", Luchterhand Verlag, 382 Seiten, 24 Euro


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