23.04.2024

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09.04.05 / Straße ohne Wiederkehr

© Preußische Allgemeine Zeitung / 09. April 2005

Straße ohne Wiederkehr
von Christa Schulz-Jedamski

Der Kuchen war besonders gut gelungen. Prima, denn heute hatte ich mich mit meinen Freundinnen zu einem Kaffeeklatsch im Seniorenheim verabredet. Einmal im Monat machten wir so etwas und jeder brachte dann dazu etwas an Kuchen mit. Eigentlich war es ein Altenwohnheim, kein teures, sondern nur ein einfaches, aber mit viel Verständnis und Zuneigung vom Pflegepersonal geführt. In diesem Heim waren wir immer bei allen herzlich willkommen, denn diese älteren Heimbewohner waren für jede Abwechslung dankbar, besonders auch für persönliche Ansprache und Zuhören. Also schnell alles zusammengepackt und ab damit, die Zeit drängte ...

Im Speisesaal wurden die Tische zusammengestellt, das Geschirr aufgedeckt, Kaffee und Tee aufgebrüht, Kuchen aufgeschnitten und bereitgestellt und jedes Gedeck noch mit einer mitgebrachten kleinen Blumendekoration verschönert. Zuerst betraten die Frauen den nachmittäglich ausgestalteten Raum, vorsichtig und abwägend, dann zögernd einige Männer, die sonst lieber Skat oder Schach spielten, die Neugier an diesem einen Tag war dann doch stärker.

Eine ältere Frau fiel mir besonders auf. Ihre zurückhaltende Art, das etwas unsichere Auftreten, ihre fahrigen Bewegungen, die großen unendlich traurigen Augen, ihr mit vielen kleinen Fältchen durchzogenes Gesicht, und dann noch diese unnachahmliche Art, wie sie ging und stand und ihren Platz einnahm - so dicht an der Tür! Irgend etwas an ihr kam mir so vertraut vor, doch durch die Arbeit an den Kaffeetischen verdrängte ich das Nachdenken - später, sagte ich mir. Doch es kam nicht mehr dazu, daß ich an ihrem Tisch zu tun hatte. Und dann war es zu spät, sie war plötzlich und lautlos, ohne daß ich es überhaupt bemerkte, verschwunden. Ich fragte die anderen, doch es kam nur ein Achselzucken: "Sie ist sehr seltsam, spricht nicht viel und ist sehr viel allein!" Ich nahm mir vor, mich nach dieser Frau eingehender zu erkundigen.

Eines Tages erfuhr ich ihren Namen. Natürlich, sie war es, diese junge, hübsche blonde Frau, die mit uns im Flüchtlingsauffanglager in S. die ungewisse Zeit nach der schrecklichen Flucht verbrachte, ihre zugewiesene Bettstatt neben uns belegt hatte. Sie war eine traurige Person, die sich von allen Querelen und Anfeindungen, die unter so vielen Menschen in diesem großen Saal vorkamen, zurückhielt. Ihre Pritsche hatte dicht an der Eingangstür gestanden, und sie hatte sich immer so verhalten, als wollte sie sofort und gleich davonlaufen. Behutsam war dann meine Mutter in ein Gespräch mit ihr gekommen. Beide Frauen weinten gemeinsam und manchmal lachten sie auch zusammen, und ich als kleines Menschenkind, ich hatte gar nichts verstanden, ich hatte nur begriffen, daß beide Frauen sich gegenseitig trösteten. Es kamen neue Flüchtlinge in dieses Lager und andere wieder wurden überallhin in Thüringen verteilt, wo es eine vorübergehende Unterkunft für sie gab.

So verloren wir uns aus den Augen, aber sie ging mir nie mehr aus dem Sinn, und ich dachte oft daran, wie sie mich getröstet hatte, wenn ich vor Herzeleid vor mich hinweinte, vor Hunger, vor Kälte, vor Demütigung und Heimweh. Wie oft hatte sie mich in die Arme genommen, wenn ich auf ihrer harten Pritsche saß, hatte mich gestreichelt und mir dabei Märchen und Geschichten erzählt.

Viel später hatte mir meine Mutter ihre Geschichte erzählt, eine traurige Geschichte von dieser schönen blonden Frau. Ein schreck-liches Schicksal hatte sie zu tragen. Ihr Mann war als Soldat an der Ostfront gefallen, deshalb lebte sie wieder mit ihrem Kindchen in Königsberg bei ihren Eltern. Dann war der große Luftangriff im August 1944 gekommen, der diese Stadt so sehr vernichtet und ganze Stadtteile in Schutt und Asche gelegt hatte. Dabei waren ihre Eltern verschüttet und nur noch unter den Trümmern tot geborgen worden. Ihr Kindchen aber wurde nicht gefunden. Nur sie hatte das ganze elende Drama überlebt - und sie wußte nicht warum!

All das fiel mir wieder ein, wie sie so dasaß mit dem Rücken an der Wand, die Beine angezogen und mit den Armen umschlingend, ihre Augen geschlossen, und unter den Lidern quollen unaufhaltsam die Tränen hervor. Und nun sah ich sie nach so vielen Jahren wieder. Von nun an fuhr ich öfter in dieses Heim, um Frau G. zu besuchen. Es war schwierig, ihr Vertrauen zu gewinnen, und es dauerte einige Zeit, bis ich mich zu erkennen gab. Da schaute sie mich erschrocken und abwägend an, sie wollte es einfach nicht glauben: "Nach so langer Zeit, unfaßbar", meinte sie, "doch auch ein Fingerzeig des Schicksals - jetzt bin ich nicht mehr so einsam und ich kann dir vertrauen", und dann verstummte sie wieder. Sie glitt wieder ab in ihre eigene Welt, die sie sich in all den Jahren aufgebaut hatte, um weiter leben zu können. Nach vielen Besuchen und

vielen Gesprächen, wobei manchesmal die Erinnerung zum Vorschein kam, erfuhr ich, daß sie nicht in Thüringen geblieben war, sondern von einer Stadt zur anderen gezogen, bis sie in F. gelandet war. Als Sekretärin hatte sie gearbeitet und war ihr ganzes restliches Leben allein geblieben - "hatte nur für mich zu sorgen, ich hatte keine Kraft mehr, es war alles wie zu Ende. Mir ist es dann schon irgendwie gutgegangen, materiell, aber ich fand keinen Anschluß an Menschen, die mir gewogen waren. Es lag auch zum großen Teil an mir, ich war innerlich wie zerbrochen. Nur die Arbeit hielt mich einigermaßen aufrecht, die Pflicht, weißt du? Dann wurde ich sehr krank und schließlich bin ich hier in diesem Heim, meiner letzten Station, angekommen."

Sie schaute mich mit ihren müden blauen Augen traurig an, lehnte sich sachte an mich, so schutzbedürftig und zaghaft, dabei bemerkte ich, daß ihr Blick suchend und unergründlich in die Ferne glitt. Noch einige schöne Monate hatten wir miteinander, aber immer öfter verweigerte sie Gespräche, wollte nicht mehr spazierengehen und zog sich immer mehr in ihre eigene Welt zurück. Was sollte ich nur tun? Ich wollte nicht, daß es schlimmer würde, sie sollte wieder mehr lachen können, noch viele schöne Tage haben, wenigstens noch am Leben teilnehmen und spüren, was ringsherum passierte! Es war nichts zu machen, sie glitt mir immer wieder aus der so mühsam aufgebauten Nähe.

Ich spürte, sie wollte nur weg, nur weg. "Ich muß es suchen, hast du es irgendwo gesehen - ich muß es doch finden", murmelte sie leise. Da endlich hatte ich begriffen: Sie suchte ihr Kindchen! Einige Tage später kaufte ich eine größere Babypuppe, zog ihr passende Kleidung an, gab ihr Schnuller und Windeln aus Mull dazu und nahm dieses Puppenkind dann mit ins Heim.

Es war ein schöner, noch warmer Spätsommertag. Wir setzten uns auf eine Bank im Park. Frau G. sprach auch heute nicht, nicht einmal ein Anflug eines Lächelns lag auf ihrem Gesicht, kein Zeichen des Erkennens. Ihre Augen sahen nur ins Leere. Da nahm ich die Puppe aus der Tasche und legte sie ihr vorsichtig in den Arm. Mein Herz klopfte heftig. Wie würde Frau G. reagieren?

Ihre traurigen Augen glitten über die Puppe, und ein zaghaftes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Überrascht und glücklich drückte sie das Puppenkind an ihre Brust, streichelte zärtlich das Gesichtchen und flüsterte liebevoll einige Kosenamen. Freudestrahlend schaute sie mich an: "Ich habe mein Kindchen, endlich habe ich es gefunden!" Langsam stand sie auf und ging versonnen und langsam schlurfend und sehr vorsichtig, die Puppe in den Armen wiegend, durch den Park zurück ins Haus. Ich sah ihr zufrieden und zugleich traurig nach, denn nun hatte ich sie endgültig verloren. Es tröstete mich, daß sie nun glück-lich war - mit ihrem Baby und ihrer vergangenen Welt, die sie nun doch noch eingeholt hatte.

Endlos: Weit zogen die Chausseen, umsäumt von mächtigen Bäumen, durch Ostpreußen. Während der Flucht waren sie meist Straßen ohne Wiederkehr. Foto: Salden


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