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09.04.05 / Und wer kümmerte sich um die Notleidenden?

© Preußische Allgemeine Zeitung / 09. April 2005

Und wer kümmerte sich um die Notleidenden?
von Christel Bethke

Erzähl doch mal", sagt der Enkel, der zu einem Kurzbesuch bei seiner Großmutter eingetroffen ist. Ein ganzes Jahr haben sie sich nicht gesehen; ob das nur daran liegt, daß er auf einem Schiff beschäftigt ist, fragt die Oma erst gar nicht. Wahrscheinlich von seiner Mutter geschickt, denkt sie mißtrauisch, und die hat ihm eingebleut, der alten Mutter zuzuhören. Wie das eben bei alten Leuten so ist, wenn sie allein leben - sie müssen in die kurze Spanne Zeit, die ihnen zugestanden wird, alles hineinpacken. Die Jungen haben Streß und das Leben ist heute eben nicht so leicht. War es jemals einfach? Das fragt sie sich oft bei solchen Klagen.

Heute wird es aber anders, freut sie sich. Zuerst hatte sie Frank gar nicht erkannt, dachte, schon wieder zieht ein neuer junger Mann ins große Haus mit seinen 40 Wohneinheiten. Ein zweiter Blick belehrt sie, es ist der Enkel, für den sie nun alle Register zieht. Alle Dosen werden vorgeholt, in denen sich noch Köstlichkeiten von Weihnachten befinden. Aber Frank will nur vom Mohnkuchen essen, der mit der Zeit immer besser geworden ist. Als ob sie das geahnt hätte, hatte sie das letzte Stück für ihn verwahrt .

Sie sitzen am Küchentisch, und Oma redet und redet. Über die große Flutkatastrophe in Südostasien. Über die Toten und die Vermißten. Das alles erinnert sie an die Kata-strophe von vor 60 Jahren, als sie auf die Flucht gehen mußten, damals, als sie noch ein Kind war.

Nur, ist das vergleichbar? Kann man das miteiander vergleichen? Wohl eher nicht, denn es sind ja immer andere Menschen, die betroffen sind. Die Urlauber, hatte sie gehört, die aus den untergegangenen Urlaubsparadiesen nach Hause geflogen wurden, erhielten sofort psychologische Betreuung, wurden getröstet und willkommen geheißen. "Nichts davon bei uns", meint sie, "und die Not war riesig, damals. Am liebsten hätte man die Flüchtlinge wieder zurückgeschickt", weiß sie noch.

Frank will anderes wissen, fragt nach dem Tag, an dem sie flüchten mußten und wie das war. Sie erzählt, die Mutter sei um halb vier aus dem Geschäft gekommen und habe gesagt, die Stadt müsse in einer Stunde geräumt sein. Die Russen seien da. Am Abend zuvor waren sie noch mit den Soldaten, die zur Einquartierung in den Familien untergebracht waren, Schlittschuh gelaufen, hatten gelacht, und überhaupt hatte die kleine Stadt einen festlichen Eindruck gemacht. Die Soldaten hatten getrunken, gesungen, alles hatte sich gemischt. Heute weiß sie natürlich, daß das ein Tanz auf dem Vulkan gewesen ist. Denn das Wummern der Geschütze in der Ferne war nicht zu überhören und der rote abendliche Horizont nicht zu übersehen. Wie naiv sie waren! Darüber wundert sie sich immer noch.

"Jedenfalls hieß es nun ohne Plan und ohne Orientierung bei eisigem Wind raus auf die Straße, sich einordnen in den Treck, der aus Militärfahrzeugen und Flüchtlingen

bestand. Der Beschuß durch feindliche Flieger. Schutz suchen im Graben voller Schnee, der Bruder neben mir." Wenn es jetzt mal neben ihr zischt oder knallt, duckt sie sich innerlich immer noch. "Kein Mensch lenkte irgendeinen irgendwohin. Alles drängte in dieselbe Richtung, obgleich eine andere vielleicht die Rettung gebracht hätte."

Ein Stück durften Mutter und Tochter auf einem offenen Lastwagen fahren. Der Mond erleuchtete alles gespenstisch. "Dunkel war's, der Mond schien helle, als ein Wagen blitzeschnelle, langsam um die Ecke fuhr. Drinnen saßen standen Leute schweigend plaudernd im Gespräch vertieft, als ein totgeschossener Hase auf dem Sandberg Schlittschuh lief." Dieser Singsang, der ihr damals wie ein Mühlrad im Kopf herumging, blieb ihr fürs Leben erhalten, wenn die Erinnerungen auftauchen. Psychologische Betreuung wäre sicherlich hilfreich gewesen.

Nein, die "Gustloff" war nicht ihr Schiff gewesen, das sie nach dem entsetzlichen Gang über das schon tauende Haff aufgenommen hatte. Bis zuletzt hatte die Mutter gezögert, hatte immer noch auf den Sohn gehofft, der auf der Flucht verlorengegangen war. Dann aber hatte sie kurzentschlossen einer Schwangeren ein kleines Kind vom Arm und eines an die Hand genommen und zu der Frau gesagt: "Geben Sie mich als Ihre Schwester aus. Ich helfe Ihnen!" Dann wochenlanges Fahren oder mehr Stehen in Viehwaggons. Manchmal zweifelt sie heute selbst an dem, was sie da erzählt. Sie hat so viele Erinnerungen von anderen gehört, daß sich ihre schon damit mischen. Nein, der Bruder, der heute Franks Großonkel wäre, blieb verschollen. "Mir ist", sagt sie zu Frank, "als ob meine Seele etwas eingemauert hat, etwas, das raus möchte. Das ist schwer zu tragen an manchen Tagen."

Frank will sie ablenken und lädt seine Großmutter zu einer kleinen Fahrt ein. Sie fahren über Land, kehren in einem kleinen Ort zu einem Glas Tee ein. Der See, an dem es liegt, ist noch zugefroren. Frank will wissen, wie es heute ist. "Sieh mal, mein Lieberchen", sagt sie und faßt nach seiner Hand, "wenn alles nicht so gekommen wäre, gäbe es dich ja gar nicht, und das wäre doch schade, nicht wahr?" Sie müsse manchmal an ein Gedicht von Hölderlin denken, fügt sie hinzu, in dem es heißt, daß der Mensch immer erst eins drauf bekommen müsse, ehe er wisse, daß die Götter für ihn sorgen. Heute weiß sie, daß das Leben in all seiner Bescheidenheit damals gut war. Sri Lanka? Kein Mensch hatte früher je davon gehört, und daß man dort besser Weihnachten feiern könne als zu Hause, wäre auch neu gewesen. "Zum Guten in meinem Leben gehörst du", sagt sie und läßt sich, nun beruhigt, von ihrem Enkel nach Hause fahren.


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