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23.04.05 / Von wegen "Wir sind ein Volk"

© Preußische Allgemeine Zeitung / 23. April 2005

Gedanken zur Zeit:
Von wegen "Wir sind ein Volk"
von Wilfried Böhm

Die Westdeutschen verwuchsen mit Westeuropa, viele sogar mit Nordamerika" formulierte einmal der Historiker und Journalist Peter Bender und - politisch korrekt - fuhr er fort: "die Ostdeutschen fanden nur wenig Zugang zu ihren Nachbarn".

Mit "Ostdeutschen" meinte er nicht die Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer ostdeutschen Heimat vertrieben wurden und entweder in Westdeutschland zwischen Nordsee und Alpen - der späteren Bundesrepublik - oder in Mitteldeutschland zwischen Ostsee und Thüringer Wald - der späteren DDR - ihre Zuflucht fanden. Bender meinte mit "Ostdeutschen" die Deutschen in der DDR, so, wie es mittlerweile offizielle Lesart geworden ist, um deutsche Heimat im Osten zu verdrängen.

Die eigentlichen Ostdeutschen mußten 1945 und in den Jahren danach ihre angestammte Heimat jenseits von Oder und Neiße verlassen, von der aus sie über Jahrhunderte Zugang und mannigfaltigen Austausch mit ihren Nachbarn gehabt hatten. Sie wurden auf der Grundlage ihrer Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950 mit ihrem Verzicht auf Rache und Vergeltung zu der eigentlichen deutschen "Friedensbewegung". Auch wenn es heute in Deutschland überhaupt noch demokratischen Patriotismus gibt, dann ist das in erster Linie den heimatvertriebenen Landsleuten zu verdanken. Anerkannt und gewürdigt wird das fast nie.

Auch Peter Bender meinte dieses alles nicht. Sein erwähnter Text ging weiter: "Die Westdeutschen wurden Europäer, soweit man das werden kann", und die "Ostdeutschen", in seinen Augen also die Menschen in der DDR, "blieben deutsch". Bender fügte dem hinzu: "Beide wurden von ihrem politischen und wirtschaftlichen System geprägt, und da dieses vier Jahrzehnte lang geschah und mehrere Generationen schon in diesen Systemen aufwuchsen, wirkte die Prägung stark und nachhaltig". Diese unterschiedlichen Prägungen und Erfahrungen hätten nach seiner Meinung die Vereinigung "mehr als alles andere behindert".

In der Tat ist die Unterscheidung in "Wessis" und "Ossis" der oberflächliche Ausdruck für deutsche Probleme, die zwar sehr real sind, aber nicht wirklich zum Gegenstand einer nachdenklichen nationalen Einigungspolitik geworden sind. Diese hätte jedoch Priorität gegenüber allen politischen und wirtschaftlichen Ambitionen im Blick auf die Einheit Europas bis hin zur Euro-Einheitswährung haben müssen. Nur so hätten die wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Überforderungen Deutschlands vermieden werden können, die zum gegenwärtigen wirtschaftlichen Stillstand mit allen seinen negativen Folgen bis hin zur Massenarbeitslosigkeit geführt haben.

Diese Unterlassungen müssen und können überwunden werden, um der fordernden Feststellung "Wir sind ein Volk", die 1989 die revolutionäre Volksbewegung getragen hatte, endlich gerecht zu werden. Das kann sehr wohl noch immer geschehen. Dazu gehört die Aufarbeitung der Geschichte der zweiten sozialistischen Diktatur, die in einem Teil des Vaterlandes der nationalsozialistischen folgte. Natürlich sind dabei auch die unterschiedlichen Strukturen, aber auch die Zusammenhänge beider Totalitarismen aufzuzeigen. Alle gesellschaftlich relevanten Gruppen können das tun, indem sie sich zuhören, reale Machtverhältnisse und Überlebensstrategien von damals schildern, ohne dabei Schuldzuweisungen und deren Folgen in den Mittelpunkt zu stellen.

Ein Beispiel: Im Verlag Die Furt 2004, Jacobsburg ist unlängst das Buch "Und der Zukunft zugewandt" von Hans Joachim Winter erschienen, der darin seine Erinnerungen, Erfahrungen und Erkenntnisse im Dienst der CDU in der DDR schildert, die sich nach ihrer Gründung im Juni 1945 als überkonfessionelle Partei etabliert hatte und die nach dem von der Sowjetischen Militäradministration erzwungenen Rücktritt ihrer Spitzenpolitiker spätestens seit 1947 ihre politische Selbständigkeit verlor und zur "Blockpartei" wurde. Winter erzählt aus seinem Leben, dem Studium an der Arbeiter- und Bauernfakultät, seinem Eintritt in den kirchlichen Dienst, als Sozialarbeiter in den Hoffnungsthaler Anstalten, in der Diakonie und von 1966 an als hauptamtlicher Mitarbeiter der CDU. Er beschreibt aus der Sicht eines Funktionärs dieser Ost-CDU den Alltag der Parteiarbeit als Instrukteur im Bezirkssekretariat Frankfurt / Oder, das Spannungsfeld der Kirchenpolitik, seine hauptamtliche Tätigkeit bei der CDU-Presse, in einer Partei also, die dem "christlichen Realismus" als kleine, von Sekretären dirigierte Kaderpartei dienen sollte. An zahlreichen konkreten Schilderungen der Bewegungsmöglichkeiten wird dieser Alltag aus seinem persönlichen Erleben und - natürlich - aus seiner Sicht dargestellt. Bei der Lektüre geht es nicht darum, seine Sichtweise anzuerkennen, wohl aber sollte es immer darum gehen, sie zu kennen, um sie zu verstehen.

Winter verweist darauf, daß die DDR viereinhalb Jahrzehnte der Lebensraum von 17 Millionen Deutschen war, in dem diese insbesondere nach dem 13. August 1961 eingeschlossen waren, ihr Leben aber nicht in dumpfer Trauer verbrachten, sondern gelebt, geliebt und fleißig gearbeitet hätten. Dabei verweist er darauf, daß seine Erfahrungen nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Gesamtgeschehen seien und zudem subjektiv und auch nicht repräsentativ. Die DDR sei Vergangenheit, aber auch mehr als eine zu vernachlässigende Episode Nachkriegsdeutschlands, vielmehr ein bedenkenswerter Teil der deutschen Geschichte.

So gesehen ist das Buch ein Mosaikstein für die Beschäftigung mit unserer Geschichte, der dazu dienen kann, Sprachlosigkeit bei der Suche nach deutscher Identität zu überwinden. Zu einer solchen Selbstfindung der Deutschen gehört vieles, zum Beispiel die Massenflucht vor dem 13. August 1961 als Folge der totalitären Durchdringung aller Lebensbereiche in der DDR, die Anziehungskraft "des Westens" mit seinem wachsenden Wohlstand, aber auch die zunehmende Abwendung der Westdeutschen von ihren unerreichbar gemachten Landsleuten in der DDR. Der Schriftsteller Patrick Süskind beschrieb das Lebensgefühl seiner, der 68er-Generation wie folgt: "Ob die Deutschen in zwei, drei, vier oder einem Dutzend Staaten lebten, war uns schnuppe". Die Einheit der Nation, das Nationale überhaupt, sei ihre Sache nicht gewesen. Ihr Blick ging nach Westen in die Provence und nach Süden in die

Toskana, die viel näher lagen als "so dubiose Ländereien wie Sachsen, Thüringen, Anhalt, Mecklen- oder Brandenburg," denn: "Was hatten wir mit Leipzig, Dresden oder Halle im Sinn? Nichts. Aber alles mit Florenz, Paris, London."

Daß sie sich mit dieser Geisteshaltung nicht nur gegen Deutschland, sondern in Wahrheit auch gegen Europa stellt, ist ihr nie bewußt geworden, bis heute nicht. Denn Europa ist das Europa der demokratischen Nationalstaaten, die nach dem Schrecken zweier verheerender europäischer Bruderkriege als solche die friedliche Zukunft ihrer Völker gestalten.


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