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30.04.05 / Moskau am 9. Mai - wieder ganz in Rot / Martin Schmidt über die Feiern zum 60. Jahrestag des Kriegsendes, über die Staatsgäste und die Fernbleibenden

© Preußische Allgemeine Zeitung / 30. April 2005

Gedanken zur Zeit:
Moskau am 9. Mai - wieder ganz in Rot
Martin Schmidt über die Feiern zum 60. Jahrestag des Kriegsendes, über die Staatsgäste und die Fernbleibenden

Man kann sich das Bild unschwer vorstellen: Bun-deskanzler Schröder am 9. Mai mitten in Moskau, flankiert von Putin und zahlreichen anderen Regierungschefs, den Blick - mit einem Anflug von Stolz - auf den Kreml und salutierende russische Elitesoldaten gerichtet. Denn er, der Angehörige der besiegten Nation, darf dabei sein, wenn das offizielle Rußland den 60. Jahrestag der Kapitulation der deutschen Wehrmacht feiert.

Ausgerechnet am 20. April, also an "Führers Geburtstag", haben in Moskau die Werbekampagnen für die große Siegesfeier offiziell begonnen. Rund 50.000 Flaggen und Fähnchen, 3.000 riesige Plakate und 200 Kilometer Elektrogirlanden stehen zur Verteilung bereit. Allerdings werden diesmal so gut wie keine Fahnen in Weiß-Blau-Rot, also in den Nationalfarben, zu sehen sein. Denn diese hatte im Zweiten Weltkrieg noch die auf deutscher Seite kämpfende Wlassow-Armee getragen. Statt dessen wird Moskau am

9. Mai wie in alten Zeiten ganz in Rot getaucht. Als Symbol der Feiern wurde der von schwarzgelben Georgsbändern umflochtene fünfzackige Sowjetstern mit der Inschrift "60 Jahre Sieg" gewählt. Russisch-englische Spruchbänder sollen außerdem vom 1945 errungenen "Sieg für alle" künden.

Schröder habe die Moskau-Einladung Putins, so der Spiegel, gern angenommen. Ihm fehlt das, was sich baltische oder polnische Spitzenpolitiker allem äußeren Druck zum Trotz bewahrt haben: ein Gefühl für die Komplexität dieses Jahrestages, die es auch und gerade einem deutschen Kanzler nahelegen müßte, in Berlin zu bleiben. Dort könnte er dann frei von fremdbestimmten protokollarischen Vorgaben an alle Opfer der fürchterlichen Kriegsjahre erinnern und auch die Folgen der sowjetischen Okkupation halb Europas nach 1945 einbeziehen. Und er müßte sich nicht dem Vorwurf einer verharmlosenden Interpretation des Sowjeterbes sowie einer übergroßen Nähe zu Putin aussetzen, dessen Amtsführung immer totalitärere Züge annimmt.

Wie man mit diesem historischen Datum angemessen umgehen kann, machen derzeit die Präsidenten Estlands und Litauens vor. Der Ex-Kommunist Arnold Rüütel und der aus der Emigration in Amerika heimgekehrte Valdas Adamkus werden Anfang Mai nicht an die Moskwa reisen. Rüütel erklärte, daß "die durch den Zweiten Weltkrieg und die nachfolgenden Jahre ausgelösten Leiden des estnischen Volkes bis heute nicht aus dem Gedächtnis der Bevölkerung verschwunden" seien.

Vytautas Landsbergis, der erste postkommunistische Präsident Litauens und heutige Vertreter der Baltenrepublik im Europaparlament, äußert sich deutlicher. In der Welt betonte er: "Der Gastgeber dieser Feier - Rußland, in Gestalt der Sowjetunion - war selbst Verursacher dieses Krieges, des blutigsten in der Geschichte Europas, dessen Ende nun gefeiert wird. Gewiß, die UdSSR löste diesen Krieg im Verein mit Hitler aus, aber ihre Verantwortung ist unbestreitbar. Indem es diese Feiern auf dem Roten Platz abhält und so den sowjetischen Sieg unterstreicht, feiert das heutige Rußland auch seine Zugewinne aus diesem Krieg. Einer davon war mein eigenes Land, Litauen, dessen Angliederung an Stalins Reich von unzähligen Tragödien begleitet war ... Es wird also nun ein ehemals versklavtes Land eingeladen, seine Gefangenschaft zu feiern."

Die weitaus meisten Esten und Litauer sowie viele Letten teilen diese Sicht, zumal sie nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen, daß der Kreml eine Entschuldigung für die jahrzehntelange Besatzungsherrschaft und die sowjetrussischen Verbrechen im Baltikum ebenso kategorisch ablehnt wie alle Forderungen nach Entschädigung. Hier sei beispielhaft auf die über 35.000 nach Kriegsende in Viehwaggons gen Sibirien verschleppten Esten und die rund 30.000 in den Kämpfen gegen die neuen Besatzer umgekommenen litauischen "Waldbrüder" hingewiesen. Zudem gilt es, an die ökologischen Verwüstungen zu erinnern, die die Sowjetherrschaft unter anderem in Nordostestland hinterlassen hat.

Während das offizielle Deutschland in Sachen Vergangenheitsbewältigung keine Ruhe findet, neigt man im heutigen Rußland eher zum anderen Extrem: Das stalinistische Erbe mit seinen Millionen und Abermillionen Todesopfern wird entweder gar nicht thematisiert oder verharmlost. Eine im März veröffentlichte Meinungsumfrage des Instituts VTsIOM ergab, daß 42 Prozent der Russen der Ansicht sind, ihr Land brauche einen Regenten, der Stalin ähnlich sei (unter den 18- bis 24jährigen liegt der Anteil sogar bei 45 Prozent). Selbst der Vorsitzende der Staatsduma und Chef der Partei Einiges Rußland, Boris Gryslow, hat anläßlich des 125. Geburtstages des Diktators am 21. Dezember letzten Jahres vorgeschlagen, das Datum als Geburtstag eines "außergewöhnlichen Menschen" zu betrachten, "der Rußland fehlt". Nicht weniger erschreckend ist das Ergebnis einer im März durchgeführten Telefonumfrage des Radiosenders "Echo Moskwy" (Moskauer Echo), bei der in fünf Minuten 5.000 russische Bürger anriefen, von denen nur 54 Prozent die Meinung vertraten, die Sowjetunion habe mit der Besetzung der baltischen Länder im Jahre 1940 unrecht gehandelt.

Vor dem Hintergrund solcher Beobachtungen und angesichts der vielen hochoffiziellen Beschimpfungen der baltischen Staaten aus jüngster Zeit erscheint die Beteuerung Putins wenig glaubhaft, das Ende des Krieges fortan als "Ereignis der europäischen Versöhnung" und nicht mehr, wie bisher, als "Tag des Großen Vaterländischen Sieges" feiern zu wollen.

Während die einseitige Haltung Schröders hierzulande wenig Kritik erntet, bekommen beispielsweise der japanische Regierungschef Junichiro Koizumi, der polnische Präsident Alexander Kwasniewski und seine lettische Amtskollegin Vaira Vike-Freiberga starken öffentlichen Gegenwind zu spüren, nachdem sie ihr Kommen nach Moskau angekündigt haben.

Die Zusage Koizumis war lange Zeit sehr zweifelhaft, zumal Japan nach wie vor auf einen Friedensvertrag einschließlich der Rückgabe aller vier nach dem Zweiten Weltkrieg von den Sowjets besetzten Kurileninseln sowie Süd-Sachalins drängt. Ein Ende 2004 bekannt gewordenes Rückgabeangebot der zwei südlichen Inseln Habomai und Schikotan lehnte Tokio unter Rücksichtnahme auf seine eigene, innenpolitisch einflußreiche Vertriebenenlobby ab.

Die Lettin Vike-Freiberga sprach in bezug auf ihre Einladung zu den Siegesfeiern zunächst von einer "Beleidigung", später nahm sie dann Rücksicht auf die veröffentlichte Meinung im westlichen Europa und auf die in ihrem Land in großer Zahl lebenden Russen. Darüber hinaus wollte sie offenbar die Unterzeichnung des nach langjährigen schweren Verhandlungen unterschriftsreifen Grenzvertrages mit Rußland nicht gefährden, die nun für den 10. Mai vorgesehen ist. Demgegenüber dürfte der Abschluß eines analogen Abkommens mit Estland von seiten Moskaus erneut auf die lange Bank geschoben werden.

In Polen verursacht die russische Außenpolitik eine öffentliche Unmutsregung nach der anderen. Ob es die unsensiblen Moskauer Kommentare zum 60. Jahrestag der Konferenz von Jalta waren (damals schlugen die alliierten Führer Polen dem stalinistischen Machtbereich zu und segneten die Rückgabe der sogenannten ostpolnischen Gebiete an die UdSSR ab), der Mord am tschetschenischen Präsidenten Maschadow oder die jüngste Entscheidung der staatlichen russischen Katyn-Kommission, nur 67 von 183 Aktenordern über das Massaker an polnischen Offizieren an Warschau auszuhändigen, jedes Mal folgte eine Welle öffentlicher Kritik am einstigen "großen Bruder". Der frühere Außenminister Geremek warnte zu Recht: "Wenn am 9. Mai nicht die ganze historische Wahrheit zur Sprache kommt, kann das Gedenken zu nichts Gutem führen."


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