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21.05.05 / Befreiung, Niederlage oder was? / Wie das deutsche Dilemma nach dem Ersten Weltkrieg begann (Teil XI) / Gerd Schultze-Rhonhof

© Preußische Allgemeine Zeitung / 21. Mai 2005

Befreiung, Niederlage oder was?
Wie das deutsche Dilemma nach dem Ersten Weltkrieg begann (Teil XI)
Gerd Schultze-Rhonhof

In einem Antrag an den Deutschen Bundestag haben 30 seiner Mitglieder angeregt, der jüngeren Generation das Bewußtsein über die Ursachen, die Geschichte und die Folgen des Krieges zu schärfen. Der 60. Jahrestag des Kriegsendes - so fahren die Abgeordneten in ihrem Antrag fort - böte eine der letzten Chancen, dieses Kapitel unserer Geschichte noch durch einen breiten Dialog mit Zeitzeugen zu thematisieren.

Das klingt gut, doch die vielen Chancen dazu sind verstrichen. Wer als junger Wehrpflichtiger 1939 in den Krieg hat ziehen müssen, ist heute Mitte 80. Wer damals 30 Jahre alt gewesen ist, und noch Fundiertes sagen könnte, ist jetzt Mitte 90, und viele dieser Altersgruppe sind nicht mehr am Leben. Wer sehr alt ist, kann kaum noch diskutieren, und seine Erinnerungen an die Vorkriegszeit verblassen. Wer schon gestorben ist, schweigt ohnehin. Mit wem soll dieser breite Dialog denn dann noch stattfinden? Auf mich wirkt das so, als ob hier ein Schein von "Dialog" gezaubert werden soll, bei dem sich die heute Lebenden mit den Toten unterhalten wollten.

Da sich die wenigen Überlebenden heute kaum noch einem Dialog stellen können, sei es mir gestattet, als Ersatz für ihre Sicht von damals die Zeitumstände von 1939 und die von 1945 anzubieten. Diese Fakten haben vom Beginn des Krieges bis zu dessen Ende das Bewußtsein der damals Erlebenden und Handelnden geprägt. Die Fragen für den Dialog allein auf 1945 zu beziehen, hieße 1939 zu verschweigen. Die Gründe, die zum Kriege führten, wurden in der Niederlage zwar verdrängt, aber in der schlimmen Zeit bis 1945 haben sie für viele Menschen die Motive für den Krieg geliefert. So möchte ich in diesem und den kommenden Teilen der Serie die Zeitumstände vor 1939 und zu Kriegsbeginn darstellen und fragen, ob die Deutschen zu der Zeit schon eine erneute Niederlage gegen die Sieger von 1918 der Herrschaft Hitlers vorgezogen hätten; ob sie in der Niederlage eine Befreiung gesehen hätten.

Wie sehr sich die Perspektive der Deutschen von 1939 bis heute verschoben hat, mag das Beispiel des späteren - nach dem Krieg in Deutschland sehr bekannten - Kirchenpräsidenten von Hessen und Nassau Martin Niemöller zeigen. Niemöller - 1936 noch evangelischer Gemeindepfarrer - warf dem Diktator Hitler Rechtsbrüche der Regierung und die Verfolgung der Kirchen vor. Er landete dafür 1938 im Konzentrationslager. 1939, als der Krieg begann, meldete sich Niemöller (erfolglos) aus dem KZ als U-Boot-Offizier zum Fronteinsatz. Was kann den Kirchenmann dazu bewogen haben? Hitler-Treue oder die Nähe zum Regime der Nationalsozialisten war es sicher nicht. Es war die allgemeine Sicht der Deutschen, die in den vergangenen 25 Jahren nichts als Feindlichkeit "vom Ausland" erfahren hatten. Die Deutschen in ihrer Mehrheit lasteten den neuen Krieg nur 20 Jahre nach dem "Ersten" zuerst den Gegnerstaaten aus dem Ersten Weltkrieg an und erst in zweiter Hinsicht Hitlers zu riskanter Außenpolitik. Auch wenn wohl jedermann in Deutschland seit der Tschechei-Besetzung im März 1939 wußte, wie gefährlich Hitlers Außenpolitik geworden war, so waren andere Gründe aus der Sicht von damals deutlicher und wichtiger.

Das deutsche Drama nach dem Ersten Weltkrieg begann damit, daß US-Präsident Wilson der deutschen Seite noch im Kriege einen Friedensschluß anbot, den die Sieger später ignorierten. Wilsons erstes Friedensangebot - die sogenannten 14 Punkte - endeten mit den Sätzen: "Wir sind nicht eifersüchtig auf die deutsche Größe und es ist nichts in diesem Angebot, das sie verringert ... Wir wünschen nicht, Deutschland zu verletzen oder in irgendeiner Weise seinen berechtigten Einfluß oder seine Macht zu hemmen ... Wir wünschen nur, daß Deutschland einen Platz der Gleichberechtigung unter den Völkern einnimmt, statt eines Platzes der Vorherrschaft." Dem US-Angebot folgten je fünf Noten von US-amerikanischer und von deutscher Seite, in denen man sich gegenseitig versicherte, daß man sich an die 14 Punkte halten wolle. Die einzige Abtrennung deutsch besiedelten Gebietes, die schon dort vereinbart war, war die Abtretung Elsaß-Lothringens an Frankreich. Mit der Zusicherung "Wir wünschen nur, daß Deutschland einen Platz der Gleichberechtigung unter den Völkern einnimmt" legte Deutschland seine Waffen nieder und begann, die Truppen aufzulösen.

Was dann folgte, zerstörte jede Basis für ein Vertrauen, das die Deutschen gegenüber den Briten, US-Amerikanern und Franzosen später hätten fassen können. Die Siegerstaaten hielten sich nicht an Wilsons 14 Punkte. Sie lehnten ab, die neue Nachkriegsordnung und die Konditionen für den Frieden mit den Deutschen zu verhandeln. Und als die Abgeordneten der neuen deutschen Republik die unmäßigen Forderungen der Sieger nicht akzeptieren wollten, drohte England seine Seeblockade aus dem Kriege fortzusetzen, der bis dahin schon etwa 800.000 Hungertote in Deutschland zum Opfer gefallen waren. Frankreich drohte, als die Auflösung der deutschen Divisionen schon in vollem Gange war, Deutschland anzugreifen. Da wurde der Vertrag von Versailles von deutscher Seite unterschrieben. Die drei Paten, die an der Wiege des Vertrages standen, waren Wilsons Wortbruch, das Diktat der Sieger und die Drohung Englands und Frankreichs, den Krieg fortzusetzen. Das deutsche Volk fühlte sich daher 1919 in Versailles betrogen und erpreßt. Es hatte keinen Grund, 20 Jahre später den Briten, Amerikanern und Franzosen in irgendeiner Weise mehr zu trauen als dem Diktator Hitler. Eine Befreiung Deutschlands von der Hitler-Diktatur durch ausgerechnet diese Mächte wäre der Mehrzahl aller Deutschen zu Kriegsbeginn absurd erschienen.

Auch die Jahre zwischen beiden Kriegen brachten die Sieger und die besiegten Deutschen nicht versöhnlich zueinander. In ihnen entstanden vielmehr immer neue Wunden. Die deutschen Gebietsverluste, die Vertreibungen, die Diskriminierung der Volksdeutschen in Frankreich, Polen und der Tschechoslowakei, die Einmärsche belgischer, französischer, litauischer und polnischer Truppen in das Reich mitten im doch formal geschlossenen Frieden, die Reparationsforderungen der Sieger, die Handelsbarrieren gegen Deutschland und der Boykott Deutschlands während der Genfer Abrüstungsverhandlungen bis 1934 schoben jeder Aussöhnung und Befriedung einen Riegel vor. Fortsetzung folgt

Woodrow Wilson: Der US-Präsident machte der deutschen Seite im Ersten Weltkrieg ein Friedensangebot - die sogenannten 14 Punkte -, das mit der Beteuerung endete: "Wir wünschen ..., daß Deutschland einen Platz der Gleichberechtigung unter den Völkern einnimmt ..."   Foto: Archiv


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