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04.06.05 / Eine stille Liebe

© Preußische Allgemeine Zeitung / 04. Juni 2005

Eine stille Liebe
von Renate Dopatka

In der verschwiegenen im Wald gelegenen kleinen Pension war ein neuer Gast eingetroffen: eine junge Frau, deren Vorfahren aus dieser Gegend stammten. Sie selbst hatte Ostpreußen nach eigenem Bekunden schon viele Male in ihrem Geländewagen durchstreift, immer allein, immer darauf bedacht, der Natur so nah wie möglich zu kommen. Auf die Frage der anderen Gäste, warum sie sich als alleinstehende Frau denn nicht einer Reisegruppe anschließe, lächelte sie nur: "Es ist mir lieber so ..." Ihre Einsilbigkeit, ihr Hang zum Alleinsein, mochte anderen vielleicht befremdlich erscheinen - auf Matthias wirkten diese Eigenschaften anziehend. Seit dem Tod seiner Frau vor drei Jahren hatte ihn kein weibliches Wesen derart fasziniert. Er mochte ihre ruhige Art sich zu bewegen, ihre angenehm dunkle Stimme und ihr verhaltenes leises Lächeln, wenn sie in abendlicher Runde den Anekdoten der anderen Gäste lauschte. Zu seiner Freude schien sie auch Kai, seinem elfjährigen Sohn, gut zu gefallen. Gerade weil sie niemandes Gesellschaft suchte, hielt sich der Junge gern in ihrer Nähe auf. "Stell' dir vor, Papa, sie weiß ganz genau, welcher Vogel gerade singt!" berichtete ihm Kai begeistert. "Gestern kam so'n Flöten aus dem Wald - da hat sie nur kurz gelauscht und dann gesagt, daß das ein Pirol gewesen sei!" - "Alle Achtung!" lachte Matthias. "Ich wußte überhaupt nicht, daß es hier Pirole gibt!"

In der Tat: Seine Kenntnisse über die Heimat seiner Ahnen waren äußerst gering. Wohl konnte er die wichtigsten Bauwerke aufzählen, wußte in groben Zügen auch über die Geschichte Ostpreußens Bescheid. Aber all dies waren Dinge, die man in jedem Reiseführer nachlesen konnte. Sein Wissen war das eines Touristen, nicht das eines Kenners und Liebhabers.

Vermutlich hätte er dieses stille Land auch nie persönlich kennengelernt - wäre da nicht seine Mutter gewesen. Statt der üblichen Präsente hatte sie sich zu ihrem 75. Geburtstag nämlich eine Fahrt in die Heimat gewünscht. Wohl ein halbes Dutzend Mal war sie schon an den Ort ihrer Kindheit zurück-gekehrt - diesmal sollten aber auch Kinder und Enkel mit von der Partie sein! Sie zu ihren Wurzeln zu führen, schien ihr größter Wunsch zu sein, und weder Matthias noch seine Schwester samt Anhang mochten ihn ihr abschlagen.

Seit einer knappen Woche hielt sich die Familie nun schon in der Waldpension auf. In den ersten Tagen machte die ungeheure Stille und Einsamkeit Matthias ein wenig zu schaffen. Stundenlang konnte man hier staubige Feldwege oder weich federnde Waldpfade beschreiten, ohne einem Menschen zu begegnen. Hierzu kam die unermeßliche Weite, an die das Auge sich erst gewöhnen mußte. Alles konnte man hier verlieren: Das Gefühl für Zeit und Raum, die Orientierung, und auch sein Herz. Ja, es war ziemlich aus dem Takt geraten, sein Herz, und Matthias wußte nur zu gut, was die Ursache für diese Rhythmusstörung war!

Schon beim gemeinsamen Frühstück im Speisesaal wanderte sein Blick immer wieder zum Nachbartisch hinüber, zu der aparten Erscheinung, die da so gedankenvoll an ihrem Kaffee nippte. Mittlerweile wußte er ihren Vornamen, den er aber nur mit Vorsicht über die Lippen brachte, da seine Stimme dabei fast jedesmal die Klangfarbe wechselte.

Kai waren solche Probleme fremd: "Heute fährt Maren zu der Stelle, an der mal ihr Opa gelebt hat!" verkündete er eines Morgens. "Und das Tolle: Ich darf mitfahren!" - "Ach ja?" Matthias hob spöttisch die Braue. "Sie hat dir also von allein angeboten, mitzukommen?" - "Nö, nicht direkt. Ich hab' nur durchblicken lassen, daß ich gern mal in ihrem Jeep rumkurven würde. Na ja, und da meinte sie, ich könnte heute mitfahren. Vorher soll ich dich aber um Erlaubnis fragen."

Das war seine Chance! Endlich hatte er einen triftigen Grund, sich dieser bezaubernden Einzelgängerin zu nähern! In der kleinen Empfangshalle gelang es Matthias, sie abzufangen: "Das ist doch nicht Ihr Ernst?" lächelte er. "Sie wollen sich diesen schrecklichen Plagegeist aufhalsen?" - "Es ist mein voller Ernst", erwiderte sie schließlich. "Ich mag Ihren Sohn, er ist ungeheuer wißbegierig und es macht Freude, sich mit ihm zu unterhalten." Sie lächelte nun ebenfalls: "Wenn schon Plagegeist, dann ein sehr liebenswerter ..."

Ihr Lächeln ließ ihn mutig werden. "Und zwei von der Sorte wären Ihnen zuviel?" Sie schaute ihn forschend an, dann hob sie den Kopf: "Einverstanden. Aber ich warne Sie. Sie werden lediglich ein verwildertes Grundstück zu sehen bekommen. Nur Gras und Erlenwald. Und ein paar sonnenverbrannte Holzhäuser. Ich fürchte, Sie werden sich gräßlich langweilen." - "Irrtum. Wir werden einen wunderschönen Tag haben", entgegnete Matthias sanft.

Und so war es auch. Erstmals seit seiner Ankunft nahm Matthias dieses Land mit allen Sinnen wahr. Bisher war er nur im Familienverband unterwegs gewesen. Beansprucht von der ständigen Suche nach Spuren, die an die früheren Bewohner erinnerten, und abgelenkt von Gelächter und Geplauder, war seine Betrachtungsweise eine eher oberflächliche gewesen.

Maren als Reiseführerin zu haben bedeutete vor allem eins: sich ganz dem Zauber dieser Landschaft hingeben zu können. In ihrem geländegängigen Wagen befuhren sie Wege, die auf keiner Karte verzeichnet waren. Das tiefe Blau des Himmels, die Stille, die dem von leisem Wind bewegten Kornfeld entströmte - dies alles senkte sich nun in seine Seele, setzte sich fest und hallte nach wie der Ruf des Vogels, den sie über dem einsamen Land hatten kreisen sehen.

Am Rande eines Kiefernwäldchens machten sie Rast. "Essenszeit!" lächelte Maren und hielt das mitgebrachte Lunchpaket hoch. In schöner Ungezwungenheit, so als wären sie einander sehr vertraut, lagerten sie sich in duftendem Gras, teilten Tee und Butterbrote und unterhielten sich über das, was ihnen in diesem Moment wichtig erschien. Während Kai Bäume zu erklimmen suchte und mit Marens Feldstecher nach Störchen Ausschau hielt, empfand Matthias eine immer stärkere Zärtlichkeit für das Land und für die Frau an seiner Seite.

"Sie kommen fast jedes Jahr hierher, nicht wahr?" - "Ich liebe dieses Land", erwiderte sie rauh. Die Knie umschlungen, schaute sie hinauf zu der leuchtenden Mittagsbläue: "Vielleicht liegt es daran, daß beide Elternteile von hier stammen. Der Hof der mütterlichen Linie steht nur ein paar Kilometer von unserer Pension entfernt. Wenn ich hier bin, besuche ich die Leutchen, die jetzt dort wohnen. Aber ich bleibe nie lange. Sie meinen es sicher gut, wollen mich bewirten und mir zeigen, was sich zwischenzeitlich verändert hat. Aber mir liegt nichts an alldem. Mir wäre es lieber, ich könnte mir Hof und Gemüsegarten allein anschauen. "

Sie wandte sich ihm mit einem Lächeln zu, doch ihre Augen bleiben ernst: "Ich liebe das Land, aber ich liebe auch das Alleinsein. Und das ist mit ein Grund, warum ich jedesmal - so wie jetzt - auch das Grundstück der väterlichen Seite aufsuche. Der Bauer, bei dem ich den Wagen stehenlasse, weiß Bescheid, und er weiß auch, daß ich keine Begleitung wünsche."

Matthias spürte den Schatten: "Und wir zwei, Kai und ich, werden wir Sie jetzt stören?" Sie schüttelte langsam den Kopf. "Nicht im geringsten." Sie sahen einander an, und unter seinem Blick glomm plötzlich ein heller Funke in ihren Augen auf. Ein Funke, der alle Schatten vertrieb.

Idyllisches Ostpreußen: Verschwiegene Plätze laden zum Verweilen ein. Foto: Archiv


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