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04.06.05 / Das klaffend Verschlingende / Autor Jürgen Lodemann hat die Siegfried-Sage auf faszinierende Art und Weise neu belebt und gedeutet

© Preußische Allgemeine Zeitung / 04. Juni 2005

Das klaffend Verschlingende
Autor Jürgen Lodemann hat die Siegfried-Sage auf faszinierende Art und Weise neu belebt und gedeutet

Am Anfang war das Ginungagap, das Chaos, das klaffend Schlingende, das Unerschaffene. So fängt Jürgen Lodemanns geniale und monströse Nacherzählung der Siegfried-Sage an. Und zieht auch uns sogleich in ihren Bann, und wir verschlingen die 888 Seiten dieses wunderlichen Buches.

Der Autor Jürgen Lodemann suchte wie Heinrich Schliemann, der die Wirklichkeit des Trojanischen Krieges hinter den Versen der Ilias suchte, nach einem versunkenen Schatz. Da mußte noch mehr gewesen sein. Das mittelhochdeutsche Nibelungenlied fängt bekanntlich mit den Versen an: Uns ist in alten maeren, wunders vil geseit, von helden lobebaeren, von grozer arebeit. Der anonyme Autor der Stauferzeit spricht also selbst von einer sehr alten Vorlage; offenbar einem Ur-Nibelungen-Lied aus der Völkerwanderungszeit, das die Vernichtung der Burgunder durch die Hunnen (436) widerspiegelt und mit älteren Sagen vom Drachentöter vermischt.

700 Jahre muß der Stoff von Sängern und Spielleuten überliefert worden sein, bevor es, um 1200, als ritterlich-höfisches Epos aufgeschrieben wurde, ebenso wie um 800 die Lieder der Edda zu diesem Themenkreis. Richard Wagner verarbeitete beide Dichtungen und gab ihnen im "Ring des Nibelungen" eine bis heute überzeugende Form.

Doch Jürgen Lodemann interessierte nur die "alte Märe". Er hat eine Idee, wie sie ausgesehen haben müßte, und schreibt sie auf. Seine Vision: der jüngste Bruder von Kriemhild, Giselher, der die Ermordung Siegfrieds miterlebte, schreibt einen Augenzeugenbericht über die Ereignisse. Ein irischer Mönch namens Kilian bringt die Chronik in seine Heimat und übersetzt sie ins irische Keltisch. Lodemann erfindet auch einen englischen Gelehrten mit dem vielversprechenden Namen Schazman, der um 1900 diese "Kilianschronik" entdeckt und auf englisch publiziert. Und er erfindet sich, der diese Schatzman-Übersetzung entdeckt und uns aufschreibt, auf deutsch, im 3. Jahrtausend.

Wie Schliemann in der Erde Trojas gräbt Jürgen Lodemann im Urgrund der Sprache. Er sucht in der Tiefe der lebendigen Sprache, der Namen und Ortsnamen, Flußnamen und Bergketten und fördert Beweise um Beweise für seine Vision ans Licht. Da ist der Odenwald, an dem wir hundertmal auf der Autobahn vorbeifahren: das war einst der Odin-Wald. Das waldige, erzreiche Buochenheim, wo die ersten Stahl-Schmieden entstanden, entschlüsselt sich leicht zu Bochum, die Loreley war der Fels, wo die Nymphen "lurten", bei Frankfurt, wo man heute noch den guten Äppelwoi trinkt, lag Sachsenhausen - dort waren unter den Karolingern einst Sachsen angesiedelt worden. Vor allem prüft Lodemann mit großer Sorgfalt die lateinischen Texte des

5. Jahrhunderts. Da zerbrach das Römische Reich. Die germanischen Stämme, die es zerschlagen hatten, wurden christianisiert - und teilweise romanisiert, besonders die Burgunder. Nach der furchtbaren Niederlage gegen die Hunnen siedelten sich die Reste in der heutigen Bourgogne an. 20 Jahre wühlte und grub der Schriftsteller und Funk-Redakteur Jürgen Lodemann, besessen von seiner Vision, in der Fachliteratur. Und dann war es soweit: Zum Vorschein kam, funkelnd und neu, wie die Fresken von Frau Angelico unter der Tünche von 1830, das deutsche National-Epos, spannend wie Umberto Eco, nahtlos dicht geschrieben wie von Grünbein, von überbordender Sprachphantasie wie Grass in seinen frühen Jahren.

Atemlos geht es in nie ermattendem Sprachfluß von einer großen Szene zur anderen, von der mörderischen Nordlandfahrt, dem ausgedehnten Hochzeitsmahl, dem Kampf mit den Sachsen bis zu der Versenkung des Nibelungenhorts. Alle, auch die märchenhaften Ereignisse, der Drachenkampf, die Waberlohe auf dem Isenstein, bleiben für die Phantasie zumutbar: der Drache erweitert sich glaubhaft zu einem Symbol der Besitzgier, die Schilderung der Brautprobe und des Wettkampfs der Superathleten wird einen Sportfreund eher an Doping denken lassen, die Waberlohe läßt sich als Polarlicht deuten. Selbst die Tarnkappe könnte eine optische oder - halluzinatorische Täuschung sein, der Autor läßt es offen. So bleibt vor allem der zweifache Betrug der Braut durch die Tarnkappe buchstäblich im Dunkel, diese tragische, alle Not verursachende UnTat. (Sic! Zusammensetzung vom Autor Lodemann) Um so greller und überdeutlich der Streit der Frauen vor dem Münster von Worms. Jede Person steht da überzeugend im Recht, wie in der großen Tragödie.

Doch - groß ist nicht alles, was ein großer Mann tut - Jürgen Lodemann hat eine Botschaft. Eine politisch-moralische Botschaft. Auch ist Lodemanns Siegfried sprachlich zu deuten als einer, der den Frieden siegen lassen will, und war tatsächlich ein Nachfahr von Arminius, der um 9 nach Christus die Römer schlug und in der älteren Edda, bei den nordgermanischen Umschreibern eines wahrscheinlich verlorenen "Ur-Siegfriedlieds", Sigurd heißt. In Büchern der ultrarechten Szene über die Schlacht im Teutoburger Wald wird einfach behauptet, Arminius, der Befreier der Germanenvölker jenseits des Rheins von römischer Zwangsherrschaft, sei Siegfried. Bei Lodemann ist er der Einiger der germanischen Stämme, aber auch der soziale Befreier.

Vor der Vereinnahmung durch die "Rechten" hat Lodemann eine Heidenangst. Er vermeidet deshalb sogar die Benutzung des Sammelbegriffs Germanen wie der Teufel das Weihwasser, es findet sich kaum eine Seite, auf der nicht die kleinen Leute in Burgund "Kelten" genannt werden: Diese Art politisch-historischer Korrektheit wirkt gelegentlich komisch, doch wird auch das durch die dichterische Phantasie des Autors aufgefangen: Da haben eben die burgundischen Adligen das Wort Kelten als Schimpfwort benutzt, die als Hinterwäldler ähnlich verachtet wurden wie die "Kahlgeschorenen", die Leibeigenen.

Bei Seite 341 habe ich geheult. Du, lieber Leser, wirst es auch. Doch nicht nur heulen darf der Leser, Siegfried/Arminius soll uns zu denken geben, die Umweltschutz- und antiamerikanischen Tendenzen sind unverkennbar, aber eben auch einleuchtend. Das Imperium (hier das römische, vom katholischen Klerus gestützte) ist das US-Imperium! Doch die ruchlose Tat begingen nicht die Römer und die katholischen Sittenlehrer, die "Betäuber und LeidZuteiler". Sie selber, der strahlende Siegfried und die arglos liebende Kriemhild, führen, ganz wie in der Sage schuldlos schuldig werdend, den Untergang herbei. Das ist das Große an diesem kühnen Buch: Die Ehrfurcht vor den alten Texten. Klaus Rainer Röhl

Jürgen Lodemann: "Siegfried und Kriemhild", Klett-Cotta, Stuttgart, 888 Seiten, 29,50 Euro


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