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11.06.05 / Der Irrtum ihres Lebens

© Preußische Allgemeine Zeitung / 11. Juni 2005

Der Irrtum ihres Lebens
von Frieda-Louise Drent

Gisela Krummhoff war Ende Fünfzig und stand zum zweiten Mal in ihrem Leben vor den Trümmern ihrer Ehe. Schuld daran war ihr Jugendfreund Heinz Becker, oder vielmehr das Traumbild, das sie sich im Lauf der Jahre von ihm zurechtgelegt hatte. Von Anfang an verglich sie jeden Freund und später ihre Ehemänner mit ihrer Jugendliebe. Und keiner konnte in ihren Augen diesem Vergleich standhalten.

Der Jugendfreund wurde in ihrer Erinnerung immer idealer, und zwangsläufig hatte sie an ihren Ehemännern immer mehr auszusetzen. Daß ihre Jugendliebe nicht erfüllt worden war, weil der großartige Freund sie wegen einer anderen im Stich gelassen hatte, paßte ihr weniger gut in den Kram. Diese Tatsache hatte sie daher geflissentlich verdrängt. Wenn man sie danach fragte, blieb sie immer sehr vage. Die Umstände des Lebens hätten sie auseinandergebracht. Sie wußte bei dieser Mitteilung eine so tragische Miene aufzusetzen, daß man sich hütete, weiter nachzuforschen. Jedenfalls hatte ihr erster Ehemann es bald satt, immerfort mit einem Idealbild verglichen zu werden und sich unaufhörlich die Kritik seiner Frau anzuhören. Er empfahl ihr freundlich, aber dringend, sich doch ihrem Traumprinzen an den Hals zu werfen und hatte die Scheidung eingereicht.

Anstatt aus dieser Erfahrung zu lernen, machte Gisela in ihrer zweiten Ehe denselben Fehler. Immer wieder wurde der perfekte Jugendfreund zum Vergleich herangezogen. Ihr Mann Alfred war die Gutmütigkeit in Person - aber was zu viel war, war zu viel. Ihre andauernde Nörgelei hielt auch er nicht aus. Sie standen also kurz davor, sich einen Scheidungsanwalt zu nehmen.

Dann erhielt Gisela die Einladung zu einem Schultreffen. Die Schule, die sie - und ihr Jugendfreund - besucht hatten, feierte ihr 75jähriges Bestehen, zu dem soviel ehemalige Schüler wie möglich eingeladen wurden. "Na, dann wirst du vielleicht endlich deine große Liebe wiedersehen", meinte Alfred. "Und vielleicht kannst du dich gleich mit ihm arrangieren!" Es klang ein wenig bitter. Gisela hörte ihrem Mann jedoch gar nicht zu. Sie war gerade dabei, sich einen wunderbaren Roman zusammenzuträumen.

Am frühen Morgen des Festtages brachte Alfred seine Frau zum Bahnhof. Sie war aufgeregt wie ein verliebtes Schulmädchen. "Na, mach's gut! Viel Spaß! Ich hol' dich heute abend wieder ab." Er blickte seiner Frau nachdenklich und, wie es schien, etwas mitleidig nach. Sie erkannte ihren Jugendfreund sofort wieder, was eigentlich ein kleines Wunder war, denn er hatte sich sehr geändert. Aus dem schönen Jüngling war ein korpulenter, älterer Herr geworden, mit Glatze und einem unappetitlichen Bierbauch. Ein leises Gefühl der Enttäuschung machte sich bei Gisela bemerkbar - und dieses Gefühl verstärkte sich schmerzlich, als sie feststellen mußte, daß er sie überhaupt nicht wiedererkannte. Es dauerte eine Weile, bis er sich schließlich vage an die große Liebe seiner Jugend erinnerte.

Leider blieb es nicht bei diesen zwei Enttäuschungen. Es kam noch schlimmer: Gisela mußte sich bald eingestehen, daß ihr Märchenprinz sich zu einem unausstehlichen Menschen entwickelt hatte. Er war unerträglich arrogant und betrachtete seine Mitschüler allesamt als minderwertig. Nach einer knappen Stunde verschwand er von der Bildfläche - er hatte wohl Wichtigeres zu tun. Für Gisela war eine Welt zusammengebrochen. Es kostete sie die größte Mühe, sich wenigstens halbwegs normal mit ihren Schulfreunden und -freundinnen von früher zu unterhalten. Sie seufzte erleichtert auf, als sie diesen Tag endlich wieder im Zug saß.

Als der Zug in den Bahnhof einrollte, sah sie ihren Mann Alfred bereits auf dem Bahnsteig stehen. Was für eine gute Figur er doch hatte! Das war ihr nie so aufgefallen. Und schönes Haar hatte er auch! Zu Alfreds unaussprechlicher Verwunderung teilte sie ihm diese Entdeckung sofort nach dem Aussteigen mit. "Nanu! Gleich zwei Komplimente auf einmal? Das ist mal etwas ganz Neues! Wie war's denn heute?"

"Ach, das erzähl' ich dir später. Wollen wir schnell nach Hause gehen?" Sie nahm seinen Arm, was ihn erneut in Erstaunen versetzte.

"Hör mal, Gisela! Ich hab' uns einen Tisch reserviert bei Salvatore. Darf ich dich einladen?"

"Bei Salvatore? Da waren wir ja eine Ewigkeit nicht mehr! Wie kommst du denn auf so eine Idee? Ausgerechnet heute!"

"Ja, weißt du, heute morgen, als du abfuhrst, hatte ich so ein komisches Gefühl. Ich ahnte, daß du bei deiner Rückkehr vielleicht ein bißchen Trost und Ablenkung gebrauchen könntest. Hatte ich recht damit?"

"Solche Gedanken hast du dir gemacht?" Sie schaute ihn verwundert an. "Aber du hattest wirklich recht! Du, das ist eine gute Idee: eine gemütliche Stunde bei Salvatore! Das haben wir schon viel zu lange nicht mehr gemacht!"

"Ja wir waren ganz schön dumm! Vor lauter Schimpfen und Streiten haben wir die angenehmen Seiten des Lebens völlig vernachlässigt. Wenn es nach mir ginge, dann machen wir es ab heute genau umgekehrt!"

"O Alfred! Wenn es nach mir geht auch!" Und dann machte sie etwas, das sie schon fast verlernt hatte: Sie umarmte und küßte ihren Ehemann - mitten auf der Straße!


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