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02.07.05 / Die Versammlung der Vergessenen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 02. Juli 2005

Die Versammlung der Vergessenen
von Willi Wegner

An diesem denkwürdigen Abend waren sie alle in der Habermann-Wohnung, Hagebutten-Allee 17, zusammengekommen, um endlich ihren Herzen Luft zu machen und um, nach Möglichkeit, irgendeinen Beschluß zu fassen.

Wortführer war natürlich der nicht abgeschaltete Radioapparat. Er wandte sich in voller Lautstärke an die Versammelten, die es sich bereits auf der Couch und in den Sesseln bequem gemacht hatten. "Liebe Leidensgenossen!" sagte er. "Wir haben uns hier eingefunden, um über diese unangenehme Situation zu beraten, in die uns die seit 14 Tagen verreiste Familie Habermann gebracht hat. Zunächst einmal aber wollen wir in stiller Trauer der beiden Fuchsien gedenken, die, weil sie nicht begossen wurden, ihr Leben ließen. Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben!"

Sämtliche Vergessenen auf der Couch und in den Sesseln erhoben sich und gedachten mit gesenkten Häuptern der zwei so früh dahingeschiedenen Topfgewächse. Der nicht richtig zugedrehte und seit zwei Wochen tropfende Wasserhahn vergoß sogar ein paar Tränen mitfühlenden Schmerzes. Die seit 14 Tagen brennende und etwas erschöpft wirkende Schreibtischlampe sagte: "Leute wie diese Habermanns dürften überhaupt nicht in den Urlaub fahren. Sie haben nicht die geringste Ahnung, was zu tun ist, bevor man seine Wohnung für die Dauer von vier Wochen verläßt."

"Ganz recht, ganz recht, ganz recht!" ereiferte sich der Plattenspieler. "Mein Plattenteller dreht sich dreht sich dreht sich nun schon seit dreihundertsechzig dreihundertsechzig dreihundertsechzig Stunden! Kein Wunder, daß ich diese widerlichen Kreislaufstörungen habe ... störungen habe ... störungen habe!"

"Wir sind alle betroffen!" nahm der Radioapparat wieder das Wort. "Ich selber kann noch von Glück sagen, daß man mich auf Lange Welle zwischen Luxemburg und Oslo eingestellt hat. Ein paar Millimeter weiter nach rechts oder links - und ich müßte Tag und Nacht unentwegt Musik hören. Unvorstellbar bei meinen ohnehin schon beängstigenden Kilohertzbeschwerden!"

"Gedenken wir auch derer draußen vor der Tür!" rief die auf "kleine Flamme" geschaltete Elektroplatte. "Es ist wirklich bedauerlich, daß es diesen 14 Flaschen Milch nicht vergönnt ist, an unserer heutigen Zusammenkunft teilzunehmen."

"Und was ist mit uns?!" riefen einige Ausgaben der von Habermanns abonnierten Tageszeitung. "Jeden Tag kommt ein neues Exemplar von uns durch den Türschlitz herein und wundert sich über die Sinnlosigkeit unseres Daseins. Warum lassen sich diese Leute uns nicht an ihren Urlaubsort nachsenden?"

"Oh, ihr Egoisten!" rief der Wasserhahn. "An den Urlaubsort nachsenden - das könnte euch so passen! Ihr wollt nur herumreisen und euren Spaß haben!"

"Nein", erwiderte eine der Tageszeitungen, "wir wollen nur gelesen werden! Wozu werden wir gedruckt, wenn man uns nicht liest?"

"Genug jetzt!" rief der Radioapparat. "Wir müssen überlegen, ob es möglich und angebracht ist, den Habermanns einen Denkzettel zu verpassen ..."

"Bravo! Bravo!" rief der linke WC-Fensterflügel, den man am Tage der Abreise zu schließen vergessen hatte. "Wir könnten", sagte er, "das Fernsehgerät hinunter in den Hof werfen."

"Warum, wenn wir den Leuten schon einen Denkzettel verpassen wollen", fragte die Schreibtischlampe, "machen wir nicht einfach einen netten kleinen Kurzschluß? Dann käme ich endlich ein bißchen zum Schlafen."

"Das ist wirklich", meinte der Plattenspieler, "eine gute Idee, gute Idee, gute Idee ..."

In diesem Augenblick hörten sie alle ein seltsames Geräusch. "Da ist jemand an der Wohnungstür!" sagte der linke WC-Fensterflügel.

Die Versammlung der Vergessenen hielt den Atem an.

"Vielleicht", flüsterte der Wasserhahn, "kommen Habermanns wider Erwarten früher zurück. Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Schließlich habe ich lange genug getropft."

"Nein", sagte Radioapparat, "die Habermanns sind es nicht."

"Was sollte es sonst für ein Geräusch sein?" fragte einer der versammelten Vergessenen leise.

"Da wird versucht, die Wohnungstür mit einem Dietrich zu öffnen. Offenbar ein Einbrecher - oder sogar mehrere. Ich kenne dieses Geräusch", sagte der Radioapparat, "aus einem erst kürzlich gesendeten Kriminalhörspiel. Sollte meine Vermutung tatsächlich zutreffen, dann werden andere es sein, die den Habermanns einen Denkzettel verpassen ..."

"Richtig!" sagte der Plattenspieler. "Wie bekannt, hinterlassen Einbrecher in Wohnungen, in die sie

eindringen, eine riesengroße Unordnung, und unsere zurückkommenden Urlauber erleben dann ... erleben dann ... erleben dann ... also eine unangenehme Überraschung in zweifacher Hinsicht."

"So ist es!" pflichtete der Radioapparat dem Plattenspieler bei. "Sie sehen, was sie vor ihrer Abreise alles vergessen haben und erschrekken gleichzeitig über das von den Einbrechern angerichtete Tohuwabohu ..."

"Achtung", flüsterte der Plattenspieler, "die Tür gibt nach, die Gangster sind jetzt in der Wohnung ... Sie kommen ... sie kommen ... sie kommen ..."

"Nur keine Angst", beruhigte der Radioapparat die Vergessenen, "uns kann nichts geschehen ... Sie werden uns gar nicht beachten ... Gute Nacht, ihr Lieben ... Ich erkläre die Versammlung für geschlossen. "

 

Sommerzeit -Urlaubszeit: Übervolle Briefkästen verraten ungebetenen Gästen, daß ein Haus leersteht. Foto: BfH


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