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02.07.05 / Ausspannen oder Übern Zaun geholfen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 02. Juli 2005

Ausspannen oder Übern Zaun geholfen
von Christel Bethke

Es muß etwas geschehen. Irgendwie bin ich erledigt. Müde, matt, marode, meint eine gute Bekannte, die in ähnlicher Verfassung zu sein scheint. Aber was?

War der Winter zu lang, haben einen die vermeintlichen Bedrohungen geschwächt? Hühnerpest und Rinderwahn sind glimpflich vorübergegangen, auch der weiße Rauch stieg nach nur kurzer Wartezeit aus dem Ofenrohr im Vatikan, da erfaßt eine neue Furcht die Menschheit: der Feinstaub! Alles nicht sehr ermutigend, und als mir an der Kasse im Supermarkt von hinten ein Einkaufswagen in die Hacken gestoßen wird, gibt mir das den Rest. "Nein, nein, nicht so schlimm", beruhige ich die junge Mutter hinter mir dann doch. Sie versucht gerade, ihre drei kleinen Kinder von den Überraschungseiern fernzuhalten. Vergeblich! Und ich habe Blut im Schuh wie die falsche Prinzessin im Märchen. Erlöse ich mich doch selbst! Zu Hause hole ich einen Prospekt der Insel Wangerooge vor und fahre zigmal mit dem Finger die Anzeigen und Preise der Pensionen rauf und runter. Wenn ich nicht in die gute alte D-Mark umrechne, scheint mir die Adresse mit dem i am Ende des Namens erschwinglich.

Anruf genügt. Auch wenn zu Hause schon die Wände trösten, wie es in einem russischen Sprichwort heißt, ich fahre bereits am nächsten Tag los. Weg von den Zahlen und dem Wahnsinnsverkehr auf den Straßen. Einmal sich durchpusten lassen, einmal aufs Wasser sehen. Welch einem Chaos ist der Mensch ausgesetzt!

Auf der Fähre suche ich mir einen geschützten Winkel auf Deck, doch o Schreck, Schulkinder überschwemmen das ganze Schiff. Ich will schon die Flucht ergreifen und nach unten in den Salon gehen, besinne mich aber, und dann wird es richtig nett. Ich komme mit den Schülerinnen ins Gespräch und aus dem Staunen nicht heraus. Wie offen diese Generation ist, wie selbstbewußt. Alle sind modisch gekleidet, ausgerüstet mit Handy und Fernglas. Als wir an den Seehundbänken vorüber fahren, wo sich die Tiere in der Sonne aalen, bekomme ich ein Fernglas angeboten. Aber die Bande kann nicht eine Minute still sitzen. Was ist für sie schon Wangerooge. Haben sie doch mit ihren Eltern, wie ich höre, schon ganz andere Urlaubsziele auf dem Erdball angesteuert. Mir kommt in den Sinn, daß ich im gleichen Alter gewesen sein muß, als meine Mutter mit uns Kindern während des Krieges nach Rauschen fuhr. Wir Kinder würden zum erstenmal "das Meer" sehen. Wer zuerst? Ich war so "überfreut", daß ich vor Aufregung in der Samlandbahn ohnmächtig wurde.

Hier wird Gott sei Dank keiner ohnmächtig. Wie unbeschwert sie scheinen. Endlich wächst hier eine Generation heran, die sich später ohne Schrecken an ihre Kindheit wird erinnern dürfen.

Mein Quartier ist gleich am Bahnhof. "Herr i" wartet schon vor dem Haus auf mich. Als einziger hat er in der Straße geflaggt. Gleich nach der Begrüßung - er hat noch meine Tasche in der Hand - höre ich, daß er Königsberger ist. Sogar sein schweres Schicksal breitet er sogleich vor mir aus. Auch das noch, denke ich, aber, fährt er fort, ein Mensch von der Insel habe ihm damals "übern Zaun geholfen". Den Ausdruck kenne ich, der gefällt mir.

Darüber denke ich kurze Zeit später, als ich am Strand entlang wandere, nach. Der Wind ist angenehm, am Horizont fahren Schiffe, die Wellen kommen und gehen und ich spüre, wie etwas von mir abfällt. Als ich am späten Abend vom Strand komme und in meine Straße einbiege, sehe ich am Fahnenmast die Elchschaufel wehen. "Herr i" hat für mich, die Landsmännin, geflaggt! Ich bin gerührt und morgens bedanke ich mich dafür bei ihm und meine, er solle doch während der Ferienzeit die Elchschaufel wehen lassen. "Mein Sohn will das nicht", winkt er ab. Der hätte nichts mehr damit am Hut. Na ja, so ist das mit den Generationen. Wat dem eenen sien Uhl, is dem andern sien Nachtigall. Darin sind wir uns einig.

Die Tage an der See stärken mich ungemein. Vieles wird unwichtig, wichtig ist nur die Frage des Tages: Den Fisch lieber gedünstet? Oder doch aus der Pfanne? Beim Abschied sage ich zu "Herrn i", er habe mir auch etwas über den Zaun geholfen und wenn ich wieder kommen würde, soll mich die Elchschaufel schon bei der Ankunft begrüßen. Abgemacht, verspricht "Herr i".


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