16.04.2024

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02.07.05 / ... doch die Buchen sollst du suchen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 02. Juli 2005

... doch die Buchen sollst du suchen
von Ulrich Jakubzik

Ich kann mir jetzt nicht mehr recht vorstellen, warum, aber in den Sommerferien - ich war etwa zehn - war ich ganz versessen darauf, unsere Kühe zu hüten. Hauptamtlich war das Sache von Wilhelm, der Ostern aus der Schule gekommen war und sich jetzt etwas Geld als Hütejunge verdiente, bis er am 1. Oktober bei seinem Schwager, der auf dem Gut in Bosemb arbeitete, als Hofgänger anfangen konnte. Er war etwas über 14 Jahre alt, aber kaum größer als ich. Wilhelm hatte mir immer wieder erzählt, wie schön das sei, den ganzen Tag draußen zu sein. Er würde mir auch eine prima Weidenflöte schnitzen. Und die sechs Kühe würde ich bald alle auseinanderhalten und mit Namen nennen können: die Herdbuch, die Döpnersche, die Bunte, die Nikolaiker, die Alte, die Große.

Die Weide war etwa einen Kilometer vom Mühlenthaler Hof entfernt, lag dicht vor dem Schwarzwald an einem Berghang, der runter bis zum Scharnasee ging. Es war an einem sehr heißen, ja schwülen Juli-Nachmittag, und die Kühe lagen wiederkäuend am schattigen Waldrand, wo es etwas kühler war. Mit einem Male, wir hatten es gar nicht gemerkt, war über dem Wald eine schwarze Wetterwand heraufgezogen mit schweflig-gelben Rändern. Fast gleichzeitig hörten wir es auch schon donnern. Verdammt nah! Und der eben noch glatte Scharnasee war durch die Eilung ganz aufgewühlt. Man sah die einzelnen Böen direkt kommen. "Was soll'n wir jetzt bloß machen?" fragte ich ein bißchen ängstlich. Zum Hof war es viel zu weit, und hier war nur der Wald, alles Tannen und Fichten. Mir fiel sofort der Gewitterspruch ein: Vor den Eichen sollst du weichen, / vor den Tannen flieh von dannen, / auch die Fichten such mitnichten, / und die Weiden sollst du meiden, / doch die Buchen sollst du suchen.

Es schien ein ganz schweres Gewitter zu sein. Blitze über Blitze, und gleich hinterher die Donnerschläge. "Doch die Buchen sollst du suchen, Buchen sollst du suchen", ging es in meinem Kopf herum. Und, wohl ganz unbewußt, sagte ich laut: "Buchen suchen, Buchen, Buchen. Aber wo?"

"Da", schrie Wilhelm und rannte schon los, "da, dieser hohe Baum gleich hier oberhalb, das ist doch bestimmt 'ne Buche." Ich also hinterher. Neben dem dicken Stamm kauerten wir uns hin. Jetzt hagelte es auch noch. Und dauernd diese Blitze!

Da! Ein gleißendes Licht und ein Riesenkrach, als ob ein ganzes Haus einstürzte. Wir wurden weggeschleudert. Ich sah aber noch, daß unser Baum in etwa vier Metern Höhe abgeknickt wurde. Die Kühe waren vor Angst aufgesprungen und rannten den Berg hinunter. Nur eine nicht. Der abgesplitterte Stamm mit der ganzen Krone hatte sie unter sich begraben. Arme Herdbuch! Aber viel schlimmer: Hinter mir wimmerte Wilhelm. "Mein Bein, mein Bein", schrie er, "ich kann nicht mehr gehen, und das tut so weh. Hier diesen großen Ast habe ich raufgekriegt." Nur mit Mühe konnte er sich befreien.

Ja, was tun? Rufen half nichts, es war viel zu weit, als daß uns in Mühlenthal jemand hätte hören können. Ich war für mein Alter sehr groß und kräftig. Also legte Wilhelm einen Arm um meine Schulter und versuchte, mit dem gesunden Bein zu humpeln. Es ging halbwegs. So bewegten wir uns also den Berg hinunter auf den Weg zu, der vom See nach Mühlenthal führte. An die Kuh, die so seltsam still unter den Ästen lag, dachten wir überhaupt nicht mehr.

Kaum unten auf dem Weg angekommen, sahen wir sie schon: meinen Großvater, Onkel Herrmann und Emil, den Schweinemeister, der auch für die Kühe zuständig war. Großvater und Onkel Herrmann hatten von der Freitreppe aus das heraufziehende Gewitter beobachtet. Von dort konnte man zwischen Mühle und Schornstein durch über die Scheune auf dem Hof direkt bis zum Rand des Schwarzwaldes sehen, wo wir uns befanden. Sie hatten natürlich auch den gewaltigen Krach gehört, als der Baum stürzte, und waren trotz Hagels und Regens gleich losgerannt. Großvater kümmerte sich um uns Jungens, während Onkel Herrmann und Emil nach der Kuh sahen. "Los, schnell, abstechen", rief Onkel Hermann, "die ist doch tot. Genick gebrochen durch den Baumstamm."

Der Schweinemeister stieß sein großes Messer der Kuh tief in den Hals, und das Blut spritzte heraus. "Schön offen halten, daß alles rausläuft", sagte Onkel Herrmann. Praktisch wie er war, meinte er: "Das Fleisch kann man doch noch verwerten. Ich laß gleich den Fleischbeschauer kommen, und dann wird es als Freibankfleisch verkauft."

Auf dem Hof angekommen, telefonierte Onkel Herrmann sofort nach dem Arzt, auch nach dem Fleischbeschauer. Beide kamen dann fast gleichzeitig. Sie kannten einander natürlich, begrüßten sich herzlich und bekamen von Onkel Herrmann erstmal einen Cognac oder zwei eingeschenkt, bevor sie an ihre Arbeit gingen.

Bei Wilhelm war es zum Glück nur ein glatter Bruch des Schienbeines, ohne Wunde. Aber er mußte natürlich doch ins Krankenhaus. "Ich komm dich besuchen, gleich morgen", versprach ich ihm, "bestimmt!"

Der Tierarzt, der auch die Fleischbeschau machte, hatte das Fleisch für in Ordnung befunden und freigegeben. Onkel Herrmann trug jetzt eine große weiße Schürze und zerlegte die Kuh mit der Axt aus dem Holzstall und einigen großen Messern. Emil ging ihm zur Hand, und auch eines von den Küchenmädchen. Sie mußte abwiegen. Und es entwickelte sich am Freibankplatz langsam so etwas wie ein Verkaufsfest. Großvater hatte aus einer Eingebung heraus, möglicherweise, weil uns Jungens nicht mehr passiert war, sondern es nur die Kuh erwischt hatte, ein Faß Bier spendiert. Bald ging es auf dem Holzplatz hoch her. Ein richtiger Vor-Plon, ein vorgezogenes kleines Erntefest, das bis spätabends dauerte.

Nur ich war nachdenklich umhergegangen, hatte keinen Spaß an der Sache, trank nicht mal von dem schönen kalten Himbeersaft, der für die Jugend da war. Ja, ich war mehr als nachdenklich, richtig bedrückt. "Opa, sag mal, wie kann das sein? Da heißt es doch immer: ,Doch die Buchen sollst du suchen', und dann schlägt der Blitz ausgerechnet in diese einzige Buche ein, wo ringsum der ganze Wald voll Tannen und Fichten da ist."

"Ich kenne den Baum genau, vielmehr kannte ich ihn", sagte Großvater. "Nur, das war gar keine Buche, das war eine Eiche."

"Ja, dann!" atmete ich erleichtert auf. Mit einem Male war mir der Tag wieder hell und schön.


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