20.04.2024

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09.07.05 / Die Suche nach Tamerlans goldener Muschel

© Preußische Allgemeine Zeitung / 09. Juli 2005

Die Suche nach Tamerlans goldener Muschel
von Robert Jung

Drei Brüder aus dem kalten Nordland hatten sich auf den Weg gemacht, die Sonne einzuholen. Denn in ihrer Heimat war die nur knapp drei Monate am Himmel zu sehen. Danach war bei ihnen wieder finstere Nacht und düsterer Wolkenhang. Sie gedachten, mit der Sonne immer weiter zu wandern, bis sie ermüdet war und sich zur Ruhe legte. Dann wollten sie die Sonne einfangen und mit heimbringen.

Zuvor aber suchten sie noch einen Einsiedler, einen frommen Mann, in seiner Felshöhle auf, ihn um Rat bittend. Er sagte ihnen dann auch, sie müßten wohl der Sonne nachgehen, aber bevor sie diese einfangen könnten, wäre ein tiefer, ferner See zu überqueren. Mitten in diesem See läge eine goldene Muschel aus dem Reich des Herrschers Tamerlan. Gelänge es ihnen, diese Muschel aus dem See zu bergen, dann wäre ihre Reise nicht umsonst gewesen. Denn sie enthalte wirklich die gesuchte Sonne ...

Monate und Jahre waren darüber vergangen, ehe die drei Brüder den gesuchten See erreichten, in dem sich die sagenhafte Muschel Tamerlans befinden sollte. Als sie jedoch den See überqueren wollten, stieß sie die heftige Strömung immer wieder zurück. Und je mehr sie sich dagegen stemmten, um so heftiger war der Rückstoß. Dabei waren sie alle drei geübte Schwimmer und Taucher. Unendlich viele Stunden waren sie im Wasser, aber es war alles vergeblich gewesen. Erschöpft wandten sie sich wieder dem Ufer zu.

Doch am anderen Tag sprangen sie noch einmal in den See. Sie sahen darauf die goldene Muschel hüpfend und tänzelnd, aber sie zu fassen gelang ihnen nicht. Diesmal schleuderte sie die Strömung an eine dunkle Felswand zurück, und sie erschraken. Denn von droben streckten seltsame Ungeheuer die Hände nach ihnen aus. Flugs sprangen sie aus dem Wasser und versteckten sich in einer nahen Höhle unterm Felsen.

Plötzlich vernahmen sie eine krächzende Stimme. Es war ein als weise geltender, flügelschlagender Rabe. Er wandte sich an die völlig erschöpften drei Brüder: "Kehrt um!" rief er. "Die Reise, die nämlich jetzt vor euch liegt, würde nur in ein Land führen, aus dem es keine Rückkehr gibt, egal, wer ihr auch seid! Drum merket: Noch nie hat ein Mensch die goldene Muschel berühren oder mitnehmen dürfen. Auch darf niemand den Ort betreten, woher die Sonne kommt. Nur die Verblichenen gelangen auf Flügeln zu ihr."

Schweren Herzens machten sich die Brüder auf den Heimweg. Wohl hatten sie die goldene Muschel Tamerlans und den glutroten Ball der Sonne ganz nahe gesehen, sie hatten ihn aber nicht einfangen und mitnehmen können ins kalte Nordland.

Nach langen, unendlich langen Jahren waren sie wieder in ihrer Heimat. Wie aber erstaunten und zitterten sie, als weder Mutter noch Vater lebten? Auch alle Verwandten und Freunde waren längst verstorben. Als sie sich mit bangen Herzen auf den Weg in ihr Vaterhaus machten, besahen sie sich in einem großen Spiegel, der im Hausflur hing.

Sie schreckten zurück und bedeckten ihr Gesicht mit beiden Händen. Wenn sie auch nicht die Sonne und Tamerlans goldene Muschel eingeholt hatten, die Jahre aber hatten sie eingeholt. Sie glaubten sich noch jung. In Wirklichkeit waren sie jetzt alte Männer mit eisgrauen Bärten. Als sie dies bemerkten, schlossen sie alle Fenster im Hause und die schweren Vorhänge. Und niemand fragte sie, warum sie fortan von früh bis spät die Sonne von sich fernhielten.


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