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23.07.05 / "Hier sind wir zu Hause" / Norbert Matern und seine Schwester kamen nicht nur zu einem Zwischenstopp nach Braunsberg zurück

ï Preußische Allgemeine Zeitung / 23. Juli 2005

"Hier sind wir zu Hause"
Norbert Matern und seine Schwester kamen nicht nur zu einem Zwischenstopp nach Braunsberg zurück

Schon fünfmal war Norbert Matern seit seiner Flucht wieder in Braunsberg gewesen. Da meist in Reisegruppen, gab es nur kurze Stopps. Nun wollten seine Schwester und er acht Tage in ihrer Geburtsstadt verbringen, die einstigen Spaziergänge mit ihren Eltern nachwandern und einen realistischen Eindruck von den Lebensbedingungen vor Ort - nur sieben Kilometer von der Grenze zum Königsberger Gebiet entfernt - und in der Republik Polen gewinnen. Hin und zurück ging es mit dem Schlafwagen.

Obwohl Braunsberg inzwischen drei Hotels hat, wohnten sie im Kloster bei den Katharinenschwestern, den "Kathrinchen". Eine bessere Wahl hätten sie nicht treffen können. Das eigentliche Kloster an der Pfarrkirche überstand den Krieg nicht. Das heutige wunderbare große rote Backsteinkloster in einem riesigen Garten und mit Landwirtschaft ist das 1906 erbaute Novizinnenhaus. Als sich um 1900 die 70. Novizin meldete, beteten die fast überforderten Schwestern: "Herr, mach ein Ende Deiner Gnade." Auch heute können die Nonnen zufrieden sein. 35 Schwestern wohnen in der Klausur, vier Postulantinnen werden gerade eingekleidet, drei Präpostulantinnen sind bereits im Haus.

Junges Leben gibt es im Waisenhaus der Katharinen direkt an der Pfarrkirche. Es ist eins von fünf Waisenhäusern in der Stadt, die einen finanziellen Beitrag leistet. 40 Kinder, die entweder Vollwaisen sind oder aus gestörten Familien stammen, werden hier ganztags von vier Schwestern betreut. Auf den ersten Blick ist zu sehen, wie die Kinder im wahrsten Sinne des Wortes an den Schwestern hängen. Zunächst gab es zwei, jetzt fünf Zimmer als "Frauenhaus". Hier finden Frauen Aufnahme, wenn sie nachts allein oder mit ihren Kindern auf der Flucht vor dem betrunkenen und schlagenden Ehemann sind.

Im Kloster herrscht Freude über zwei Schwestern, die mit rund 30 Jahren auf der Abendschule ihr Abitur bestanden haben. Die eine wird Medizin, die andere Pädagogik studieren. "Unser Konvent verändert sich", sagt die Oberin. Ohne abgeschlossenes Studium darf man heute nicht in Pflegeberufen arbeiten. "Wir werden akademisiert."

Wiederholt treffen die Geschwister Matern im Kloster den emerierten Allensteiner Weihbischof Professor Dr. Julian Wojkowski. Er leitet die Zeugenbefragungen für den angestrebten Seligsprechungsprozeß von 16 1945 als Märtyrerinnen umgekommenen Katharinerinnen. Die einen wurden ermordet, weil sie sich schützend vor andere stellten, Essen für die ihnen anvertrauten Kinder suchten, die anderen, weil sie einfach Nonnen waren. Am schlimmsten scheint das Ende von zwei Schwestern in Rastenburg. Sie wurden an ein Auto gebunden, das Schlangenlinien fuhr, damit die Schwestern an den Bordsteinen zu Tode kamen. - Schwester Josefa, sonst bei der Generaloberin in Rom, tippt alles in ihren Laptop.

Braunsberg wurde durch vier sowjetische Luftangriffe und die Bodenkämpfe bis zum 20. März 1945 zu 80 Prozent zerstört. Nach der Übernahme der Verwaltung gaben die Polen Braunsberg einen anderen Namen, aber das Stadtwappen blieb dasselbe: Die für Gut und Böse stehenden Hirsch und Drache unter dem dreizehnblättrigen Lindenbaum. Dieses Wappen schmückt auch das Büro von Bürgermeister Henryk Mrozinski im ehemaligen Landratsamt nahe dem unzerstört gebliebenen Bahnhof. Zum spontanen Gespräch - die Geschwister Matern waren nicht angemeldet - bittet er den ebenfalls etwas Deutsch sprechenden Vizebürgermeister Jerzy Maziarz hinzu. Beide pflegen zusammen mit ihrem Stadtrat die Beziehungen zur Kreisgemeinschaft Braunsberg und der Patenstadt Münster.

Die Kriegszerstörungen in Braunsberg sind unübersehbar. Für moderne Neubauten und die Verschönerung fehlt das Geld. Dennoch gibt es einige gute Neubauviertel wie zum Beispiel an den Kasernen. Am schlimmsten aber: Von den 18.500 Einwohnern sind exakt 2.200 arbeitslos. Es gibt Pendler nach Königsberg. Wo kommt die Steuer her? Das ist nicht viel. Der Bürgermeister zählt auf: Vor allem vom Handwerk, von den Hotels und vom Militär. Die im Jahre 2003 pleite gegangene EB Brauerei - das Wasser mit der Marke "Dr. Witt" war zu teuer - soll im Jahre 2006 unter anderem Namen mit einem polnischen Investor wieder in Betrieb gehen. Ein wenig bringe die "Agrartouristik", also der auch vom "Ermländischen Landvolk" in der Bundesrepublik Deutschland unterstützte "Urlaub auf dem Bauernhof". Aber: Nicht nur die Kolchose stellte nach der Wende ihre Arbeit ein, sondern 104 Bauernhöfe gaben auf. Der Bürgermeister spricht nicht darüber, aber ein Blick in die Landschaft zeigt es. Wo Getreide gedeihen sollte, liegen unbestellte Felder. Schön die blühende Scharfgarbe, aber Kartoffeln wären besser.

Natürlich hat der Bürgermeister auch Positives zu berichten. In Kürze wird ein neues Kino mit 300 Plätzen eröffnet. Es steht, so Mrozinski, genau an der Stelle, wo einst der "Artushof" die Braunsberger Kinogänger anzog, die dort zuletzt Goebbels Durchhaltefilme zu sehen bekamen. Zwischen Stadion und Reitstall soll 2006 mit dem Bau eines Hallenbades begonnen werden. Ein Hotelier sei der Investor, 25 Prozent der Kosten übernimmt die Stadt. Das in der Nähe liegende Potockistift beherbergt eine Filiale der Allensteiner Universität. Das frühere Freibad in der Passarge wie das Sommerbad an der Mehl-

sackerstraße existieren nicht mehr. Mit Pflaumengrund - wo alle zwei Jahre die Begegnungen zwischen den früheren und den heutigen Bewohnern Braunsbergs stattfinden -, den schönen Wegen an der Passarge und den Wäldern rundum hat Braunsberg nach wie vor viel Grün. Außerordentlich gut gepflegt sind die Schrebergärten an der Passarge. Aufgebaut ist einer der Hansaspeicher, Erinnerung an eine große Tradition.

Die Passarge ist heute nicht mehr schiffbar und - warum auch immer - trotz fehlender Industrie umweltverschmutzt. Auf ihrer letzten Strecke vor dem Frischen Haff muß sie die gereinigten Wässer des Klärwerks aufnehmen. Das schade ihr jedoch nicht, meint Zbyszek Gajenski, Leiter des hochmodernen und ansehnlichen neuen Klärwerks. Er hat in Aachen und Berlin studiert und führt die Besucher gern zu seiner Computeranlage, mit der er die Abläufe im Klärwerk steuert. Das Frischwasser für Braunsberg kommt nach wie vor aus den 70 Meter tiefen Brunnen in Regitten.

Im Juni 2006 soll die Autobahn zwischen Berlin und Königsberg wiedereröffnet werden. Die Bauarbeiten sind in vollem Gange. Im Bereich von Braunsberg enstanden bereits mindestens vier vierspurige Brücken. Hoffentlich geht dann nicht der ganze Reiseverkehr an Braunsberg vorbei und die Stadt liegt weiterhin "am Ende der Welt".

Bevor der Bürgermeister seinen deutschen Besuchern ein Abzeichen mit dem Braunsberger Wappen und ein geschmackvolles Holzkästchen mit Schreibutensilien überreicht, beklagt er, daß die Stadt keine Dokumente über die Zeit vor 1945 besitze: "Das liegt alles in Berlin."

Braunsberg verdient es nicht, vergessen zu werden, auch wenn von der einstigen Hansestadt keine Schiffe mehr bis nach England fahren, die dort ermländische Waren hinbringen und mit Kohle zurückkommen, auch wenn es keine katholisch-theologische Fakultät mehr gibt, die nicht nur Priester für Ostpreußen, sondern auch für Skandinavien und das Baltikum ausbildet. Bedauerlich ist auch, daß es an Stelle des weit über Ostpreußen hinaus bekannten Gestüts für Kaltblüter jetzt nur noch einen Reiterhof für die begüterten Bewohner von Braunsberg und ihre Kinder gibt.

Der Wiederaufstieg von Braunsberg ist zweifellos mühsam. Er wird wohl noch Jahrzehnte brauchen. Dennoch hat die Stadt Anziehungspunkte. Die 1399 fertiggestellte und 1945 zerstörte Pfarrkirche St. Katharina mit ihrem schön gegliederten hohen wuchtigen Turm wurde nicht zuletzt durch Hilfe aus der Bundesrepublik Deutschland wieder aufgebaut. Die "Basilika minor" gehört zu den Sehenswürdigkeiten des südlichen Ostpreußen und ist täglich Ziel vieler Reisebusse. Probst Tadeusz Brandys ist trotz überstandenen Herzinfarktes weiterhin voller Tatkraft. Diese beschränkt sich nicht darauf, daß er mit seinen drei Kaplänen die sechs Sonntagsmessen feiert und sich um die Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge kümmert. Vielmehr hat sich der Probst auch für immer einen Namen als Bauherr gemacht. So betrieb er den Neubau der Kirche in Grunau an der Grenze nach dem Königsberger Gebiet sowie der sogenannten Soldatenkirche im Neubauviertel an den Kasernen. Er stellte die einst evangelische Kirche in Eisenberg wieder her und unterstützte die Wiederherstellung des ältesten ermländischen Gotteshauses, der Kollegiatskirche in Pettelkau. Hier schuf sich auch der Ermländer Gerhard Steffen ein hoffentlich unvergängliches Denkmal. Der einstige Vorsitzende der Kreisgemeinschaft Braunsberg und Angehörige des Vorstandes der Landsmannschaft Ostpreußen setzte alle Kraft für den Erhalt dieser Kirche ein. Sein Lob ist nicht laut genug zu singen, wie auch Pfarrer Tadeusz Rudzinski bestätigt.

Die Kreisgemeinschaft Braunsberg hat auch die aus dem Jahre 1710 stammende Begräbniskapelle auf dem Rochusfriedhof vor dem vollständigen Verfall gerettet. Deutsche Gräber gibt es dort ebenso wie auf dem Magdalenfriedhof nicht mehr. Einzige Ausnahme: die Grabstätten der Redemptoristen von der Kreuzkirche. Die barocke Kreuzkirche, die weder außen noch innen irgendwelche Schäden aufweist, war bei Kriegsende der religiöse Mittelpunkt für die geschundenen Braunsberger.

Neben Rodelshöfen war Julienhöh ein beliebtes Ausflugsziel der Braunsberger. Nach neun Kilometern erreicht man es abseits der Straße nach Frauenburg. Wo man einst bei Bier und Limonade Erholung fand, die Kinder sich auf einem Spielplatz tummelten, sind Häuser und Stallungen verfallen. Wie in einem Entwicklungsland, könnte man meinen, doch muß man gerecht sein: Die Landwirtschaft bringt nicht soviel ein, daß die notwendigen Reparaturen bezahlt werden könnten. Die Felder ringsum sind meist unbestellt.

Angesichts des Geschilderten fragen sich die Geschwister Matern: "Lieben wir das heutige Braunsberg und seine Landschaft?" Ihre Antwort ist zunächst ein zögerndes, dann doch ein klares "Ja. Hier sind wir geboren, haben unsere Kindheitstage verbracht. Guttstädter Küche, die ostpreußischen Karamellbonbons und die heutigen Sliwkas, von Schokoladenguß umhüllte Pflaumen, schmecken wie eh und je. In der Pfarrkirche St. Katharina und bei den ,Katharinchen' sind wir zu Hause." N. M.

Rochuskapelle: Von der Kreisgemeinschaft Braunsberg wieder aufgebaut Foto: Matern


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