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23.07.05 / Atmosphärisch / 1945 in einem Dorf an der Kieler Bucht

ï Preußische Allgemeine Zeitung / 23. Juli 2005

Atmosphärisch
1945 in einem Dorf an der Kieler Bucht

Hannibal Witt, genannt Hanno, ist 1945 15 Jahre alt. Bisher hat sein Heimatdorf in der Kieler Bucht nicht viel vom Zweiten Weltkrieg mitbekommen. Doch mit den Flüchtlingsschiffen aus dem deutschen Osten, die Anfang des Jahres in Kiel landen, beginnt auch die Einquartierung von Flüchtlingen. Innerhalb von wenigen Wochen hat sich die Dorfbevölkerung verdoppelt und die Einheimischen müssen teilen lernen.

Der schleswig-holsteinische Autor Konrad Hansen erzählt in "Der wilde Sommer - Roman aus dem Jahr 1945" aus der Sicht Hannos, wie sich das Dorfgefüge durch die Flüchtlinge sowie später durch die einmarschierenden Briten und die von ihnen neu eingesetzten Amtsträger verändert. Auch die ausgebombten Kieler, die verzweifelt versuchen, ihr Hab und Gut auf dem Lande gegen Nahrungsmittel einzutauschen, und die befreiten, plündernd durchs Dorf ziehenden Zwangsarbeiter prägen das neue Dorfbild.

Doch von all diesen Veränderungen berichtet Hanno nur am Rande. Die Schule, seine Freunde, seine Schwester, sein Anfang des Krieges nach Schweden desertierter und jetzt heimkehrender Vater sowie die erste Liebe zu der im Amtshaus einquartierten, gleichaltrigen Ostpreußin Anna stehen im Vordergrund seiner Berichte.

Dem Autor gelingt es hervorragend, die Zeit um das Kriegsende lebensnah zu schildern. Manchmal erinnert sein Stil sogar ein wenig an Günter Grass' "Katz und Maus": Auch hier versucht eine Gruppe Jugendlicher mitten in einer Zeit des Umbruchs die Welt der Erwachsenen zu entdecken und zugleich sich ihr zu verweigern.

Ebenso hinsichtlich der ziemlich offen geschilderten Sexualität steht Hansen dem Nobelpreisträger in nichts nach. Von ersten Sexspielen, einem Puff nicht nur für die englischen Soldaten, hungrigen Städterinnen, die sich für eine Mettwurst verkaufen, oder einem Vater, der seine Tochter mit der Begründung mißbraucht, daß er seine auf der Flucht von Russen vergewaltigte Frau nicht mehr anfassen mag; Hansen ist in allem sehr offenherzig, um nicht zu sagen zu offenherzig. Wer dies nicht mag, sollte das auch ansonsten farbenfrohe Werk vielleicht doch eher meiden. Wer sich an so etwas nicht stößt, wird den Nachkriegsroman schon aufgrund seiner atmosphärischen Dichte zu schätzen wissen. Rebecca Bellano

Konrad Hansen: "Der wilde Sommer - Roman aus dem Jahr 1945", Piper, München 2005, geb., 476 Seiten, 22,90 Euro


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