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20.08.05 / Gaza-Streifen: Nur lästiger Ballast? / Avi Primor über die Räumung israelischer Siedlungen und Ariel Scharon

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. August 2005

Gaza-Streifen: Nur lästiger Ballast?
Avi Primor über die Räumung israelischer Siedlungen und Ariel Scharon

Derzeit liest man in den Medien, wie konsequent Ariel Scharon gegen alle Proteste am Gaza-Abzugsplan festhalte. Angeblich kann er hierbei auf die Unterstützung von zwei Dritteln der Bevölkerung zählen. Stimmt dies, oder hat sich die Stimmung vor Ort inzwischen gewandelt?

Avi Primor: Zunächst einmal, mindestens zwei Drittel der Bevölkerung unterstützen ihn in dieser Sache leidenschaftlich, und es gibt noch 14 Prozent, die keine Meinung haben, und etwa 20 Prozent, die ganz vehement dagegen sind. Das ist aber traditionell bei uns, daß 20 Prozent der Bevölkerung recht extrem ultranationalistisch eingestellt sind.

Ich muß vielleicht eine Sache erklären. Ein Großteil der israelischen Bevölkerung hat die Siedler nie aus ideologischen Gründen unterstützt. Man ist nur davon ausgegangen, daß die Siedler uns in den besetzten Gebieten gegen Terroristen verteidigen. Und so lange die Bevölkerung meint, daß wir die Siedler und die Siedlungen in den besetzten Gebieten brauchen, um uns zu verteidigen, unterstützen wir sie. Wenn man meint, daß wir auch ohne sie nicht in Gefahr sind, dann verzichtet man auf die Siedlungen.

Also stellen sie keine Gefahr mehr für den Friedensprozeß dar?

Avi Primor: Ich würde das bei 99,9 Prozent der Siedler verneinen. Dennoch gibt es unter ihnen Individuen, ich würde sagen, vielleicht ein paar Dutzende, die doch gefährlich sein können, und das haben wir vorige Woche erlebt, als so ein Siedler in einem arabischen Dorf in Israel, nicht in den besetzten Gebieten, wie ein Amokläufer herum geschossen hat und hier im israelischen Kernland Menschen ermordet und verletzt hat, bis man ihn umgebracht hat. Sie sind "ideologisch" motiviert. Das heißt, sie sind Fanatiker, aber Fanatiker, die so weit gehen, daß sie unschuldige Leute, die überhaupt mit dem Thema nichts zu tun haben, umbringen.

Im Gaza-Streifen sollen rund 8.000 Israelis zwischen 1,5 Millionen Palästinensern leben. Zu ihrer Sicherheit sind überall Soldaten stationiert, trotzdem liest man immer wieder von Anschlägen und Toten. Aus der Entfernung klingt dies ziemlich bedrückend. Wie ist es zu erklären, daß die Menschen freiwillig in einer solch feindlichen Umgebung bleiben, sich sogar massiv gegen eine Umsiedlung wehren?

Avi Primor: Es gibt zwei Gründe. Zunächst einmal leben sie gar nicht so schlecht, das ist ein falsches Bild, das man hat. Sie sagen: 8.000 Juden unter eineinhalb Million Palästinensern, das stimmt. Aber sie haben ein Stück des Gaza-Streifens bekommen, zu dem keine Palästinenser Zugang haben. Sie leben wie in einer Oase, die von außen von der Armee geschützt wird, sie bekommen Wasser, soviel sie wollen, sie bekommen alles, was sie brauchen, sie leben wunderbar. Jetzt gibt es zweierlei Siedler. Es gibt die Minderheit, es gibt die Mehrheit. Die Minderheit, die ideologisch motiviert ist, die sagen: Wir gehen hin, selbst wenn es ganz gefährlich ist, weil wir im Namen Gottes unser Vaterland wieder übernehmen müssen. Das sind die Extremisten unter den Siedlern.

Dann gibt es sehr viele Siedler, die hingegangen sind, weil man ihnen bessere Lebensbedingungen angeboten hat, Leute, die zum Beispiel in einer Stadt in einer nicht sehr schönen Gegend eine winzig kleine Zweizimmerwohnung hatten und denen man sagte: "Wollen Sie eine Villa haben, 400 Quadratmeter, mit Garten und Schwimmbad? Können Sie bekommen, wenn Sie in die Gebiete gehen." Das sind sehr, sehr viele Leute. Diese Leute übrigens sind auch bereit, die Siedlungen zu verlassen, wenn sie für ihr Haus genug Geld bekommen. Also für sie ist das hauptsächlich eine materielle Frage.

"Juden vertreiben keine Juden" lautet einer der Slogans der demonstrierenden Siedler. Auch sollen Rabbiner die Siedler zum Protest ermuntert haben und die Soldaten zur Befehlsverweigerung. Einige Soldaten sollen dies auch schon getan haben. Muß Scharon befürchten, daß die Moral in seiner Truppe bei diesem Einsatz gefährdet ist?

Avi Primor: Das sind Nebensächlichkeiten. Nicht alle Rabbiner und nicht alle Orthodoxen sind gleich. Es gibt die Extremisten und Nationalisten unter den Rabbinern, die sind sehr laut, von denen hört man sehr viel, die verlangen von Soldaten Befehlsverweigerung. Das sind individuelle Fälle. Die Truppe insgesamt ist treu, sowohl die Soldaten als auch die Polizisten, es gibt kein Problem. Es ist echt eine Nebensächlichkeit, von der man sehr viel spricht, weil das bei uns neu ist und weil das ein bißchen Angst macht.

Bisher galt der israelische Premier zumindest in Deutschland stets als Vertreter eines harten, unversöhnlichen Kurses gegenüber den Palästinensern. Was könnte zu seinem Sinneswandel geführt haben?

Avi Primor: Also nicht nur in Deutschland, auch in aller Welt, auch in Israel, und dieses Ansehen stimmt auch, es gibt keinen Sinneswandel bei ihm. Zunächst einmal: Was bedeutet die Räumung des Gaza-Streifens für ihn? Ich habe mal diesen Beschluß als Beschluß eines Kapitäns eines Schiffes beschrieben. Ich sagte, ein Kapitän eines Schiffes, der zu der Schlußfolgerung kommt, daß er Übergewicht hat und so nicht weitersegeln kann, der muß Teile seiner Ware über Bord schmeißen, um weitersegeln zu können.

Scharon hat selber gesagt, daß wir auf den Gaza-Streifen verzichten, damit wir besser das Westjordanland behalten können. Das hauptbesetzte Gebiet, auch das echte jüdische Kernland, ist ja das Westjordanland und nicht der Gaza-Streifen. Außerdem leben im Westjordanland 250.000 Siedler. Es ist auch nicht möglich, den Gaza-Streifen auf Dauer militärisch zu halten. Und insofern ist das für Scharon eine Korrektur, den Gaza-Streifen zu räumen. Darüber hinaus ist es ein einseitiger Abzug, das heißt, nicht im Einklang mit den Palästinensern, darauf besteht Scharon.

2003 hatten wir Parlamentswahlen. Der damalige Vorsitzende der Opposition, ein Mann namens Amram Mitzna, hatte als Wahlkampfslogan vorgeschlagen, einseitig den Gaza-Streifen zu räumen! Da wurde er von Sharon verhöhnt: Wie könne man so eine Dummheit sagen, auf seine historische Heimat zu verzichten?

Und was geschah im Laufe des Jahres 2003? Ein Umschwung in der öffentlichen Meinung. Seit dem Scheitern der Verhandlungen mit den Palästinensern 2000 waren die Israelis davon ausgegangen, daß wir Israelis den Palästinensern alles mögliche angeboten hätten, die Palästinenser alles abgelehnt und sogar mit Terror - nicht in den besetzten Gebieten, sondern im Kernland Israels - erwidert hätten. Also strebten die Palästinenser nicht die Unabhängigkeit, sondern die Zerstörung des Staates Israel an. In dieser Situation wählten die Israelis Scharon, der erschien der richtige Mann zu sein, da bei ihm von Gesprächen keine Rede war.

Doch Ende 2003 gab es eine neue Stimmung im Lande, die eine Wende verlangte. Sie besagte: Vielleicht haben wir tatsächlich keinen Gesprächspartner - damals war ja Arafat noch am Leben -, aber so kann es nicht mehr weitergehen. Das hat Sharon zu spüren bekommen, der in intimen Kreisen seiner Partei gesagt hat, wir müssen etwas unternehmen, sonst macht es ein anderer, das heißt, wir verlieren die Macht. Also unter Druck der israelischen Bevölkerung hat er diesen Schritt unternommen, mit dem Gedanken, ein bißchen Ballast aus dem Schiff über Bord zu werfen. Das ist sehr wichtig zu verstehen, denn, wenn Sie das verstehen, können Sie erst recht die Frage stellen, wie geht es dann weiter?

Jetzt momentan ist die israelische Bevölkerung vollkommen zufrieden. Es hat sich etwas bewegt. Die Stimmung hat sich derartig gewandelt, daß die Wirtschaftslage sich sofort verbessert hat. Es gab im Laufe der drei Jahre zuvor zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ein sinkendes Bruttosozialprodukt. Sobald die Bevölkerung von dem Rückzug aus dem Gaza-Streifen gehört hat - oder genauer, sobald sie daran geglaubt hat - kam ein Aufschwung der Wirtschaft von vier Prozent jährlich.

Nun stellt sich die Frage, wenn nach dem Abzug aus dem Gaza-Streifen der Friedensprozeß nicht weitergeht, wenn wir dann nicht auch von dem Westjordanland sprechen, wenn wir nicht mit den Palästinensern irgendeine Zusammenarbeit entwickeln, dann kommt wieder Terror, dann kommen wieder Wirtschaftsprobleme. Wie die israelische Bevölkerung darauf reagieren wird, ist die Frage ...

Warum ist aber dann Finanzminister Benjamin Netanjahu aus Protest gegen Scharons Politik des Abzugs zurückgetreten?

Avi Primor: Er rechnet nicht mit der Bevölkerung. Netanjahu ist ein Feind Scharons. Zwischen den beiden herrscht ein echter Haß. Noch aus den Zeiten, als Netanjahu Ministerpräsident war. Er will wieder Ministerpräsident werden. Nun profitiert er von der Unterstützung der Extremisten in Israel, weil die Extremisten ihn als Alternative zu Sharon sehen. Dabei hat er schon als Ministerpräsident mit Arafat verhandelt, hat auf Teile der Gebiete verzichtet. Heute jedoch predigt er eine harte Haltung und spricht sich gegen den Abzug aus dem Gaza-Streifen aus.

Jetzt geht es nicht um Wahlen, es geht nicht um die Bevölkerung, sondern es geht um die Frage, wen ernennt die Likud-Partei zu ihrem Spitzenpolitiker für die nächsten Wahlen. Also verläßt er die Regierung vor der Vollendung des Abzugs aus dem Gaza-Streifen, damit er sich als Gegner des Abzugs darstellen kann und dann innerhalb der eigenen Partei Scharons Herausforderer sein kann. Netanjahu sieht die Chance, die Partei zu erobern.

Als Netanjahu noch Ministerpräsident war, galt er immer als der weichere ...

Avi Primor: Ja und ich kann Ihnen sagen, daß Sie das sehr richtig sehen, weil Netanjahu nicht ideologisch motiviert ist, obwohl er jetzt so tut, als wäre er ideologisch motiviert. Heute stellt er sich nur als Anführer der Extremisten dar, weil das die einzige Möglichkeit für ihn ist, an die Macht zu kommen. Wenn er Scharons Herausforderer sein will, dann kann er das nur, wenn er sich als Extremist darstellt. Sollte er Ministerpräsident werden, bin ich sicher, daß er nicht eine extremistische Politik führen wird, weil er ganz gut verstehen wird, daß er mit Extremismus nirgends hinkommen kann.

Weltweit wird der israelische Mauerbau kritisiert.

Avi Primor: Schauen Sie, da muß man wieder den Hintergrund verstehen. Die Mauer ist keine Erfindung Scharons, ganz im Gegenteil. Die Idee der Mauer oder des Zauns (es ist teilweise eine Mauer, meistens ein Zaun) ist eine Idee der Linken und der Friedensstifter, eine Idee die Scharon persönlich vehement bekämpft hat. Damals sagten die Gemäßigten: "Leider können wir mit den Palästinensern keinen Kompromiß erzielen, dennoch müssen wir etwas tun. Wir werden uns aus den Gebieten zurückziehen, wir werden uns hinter einer Mauer verschanzen, damit wir uns gegen Terror verteidigen können. Aber wir werden keine Besatzungsmacht mehr sein, und die Palästinenser sollen dann in ihren Gebieten machen, was sie wollen."

Dies war eine radikale Änderung der damaligen Situation, das heißt eine Rückkehr fast bis an die alte Grenze von vor 1967. Das genau haben die Rechten bekämpft, die auf die Gebiete nicht verzichten wollten. Nun kam Scharon an die Macht, und in kurzer Zeit hat er seine Meinung geändert und ist ein Befürworter der Mauer geworden. Und zwar, weil die Mauer eigentlich eine ganz gute Idee sei. Nur sollte man die Mauer nicht entlang der alten Grenze bauen, sondern innerhalb der besetzten Gebiete, damit wir dadurch viel Territorium annektieren können. Das ist eine ganz andere Geschichte. Scharon hat einen neuen Verlauf der Mauer vorgeschlagen, der etwa 60 Prozent der Gebiete innerhalb Israels zusammenhalten sollte, und der Rest der Gebiete würde dann zerstückelt, ein sogenannter palästinensischer Staat, aber in Wirklichkeit von Israel total beherrscht. Vielleicht nicht unmittelbar, aber bestimmt mittelbar.

Da kam der Druck aus aller Welt, der Druck aus Den Haag, der Druck der israelischen Bevölkerung, und Scharon mußte unter Druck den Verlauf der Mauer immer wieder korrigieren, das heißt die Mauer immer wieder in Richtung der alten Grenze zurückziehen. Hat er sie genug zurückgezogen? Nein. Aber er hat auf den größten Teil der alten Mauer schon verzichtet unter Druck der Bevölkerung. Also, die Situation der Mauer ist sehr kompliziert, weil sie sich dauernd ändert. Der Großteil der Mauer ist - wegen dieser Diskussionen weltweit, aber vor allem innerhalb der israelischen Bevölkerung - immer noch nicht erbaut.

Wird diese Mauer für Frieden sorgen?

Avi Primor: In den meisten Teilen des Landes wird diese Mauer nicht für Frieden sorgen, aber für Ruhe, das heißt, die Palästinenser werden die Israelis dadurch endgültig loswerden, die Israelis werden das Gefühl haben, daß sie sich besser gegen Terroristen verteidigen können. In manchen Teilen des Landes wird das eher für Reibereien sorgen, weil die Mauer dort eben nicht ganz entlang der alten Grenze läuft. Aber die Frage ist, wie wird endgültig der Verlauf der Mauer aussehen? Das steht noch nicht fest. n

Das Gespräch mit Avi Primor führte Rebecca Bellano.

 

Avraham "Avi" Primor (* 8. April 1935 in Tel Aviv) ist ein israelischer Diplomat und Publizist. Er war von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland und wurde während dieser Zeit in der deutschen Öffentlichkeit als eine der wichtigsten Stimmen des deutsch-israelischen Dialogs bekannt. Seine Mutter Selma Goldstein war 1932 aus Frankfurt nach Palästina eingewandert, ihre gesamte Familie wurde während des Holocaust ermordet. Sein Vater war Sohn holländischer Einwanderer. Seit Oktober 2004 ist Avi Primor Direktor des Trilateralen Zentrums für Europäische Studien an der Privatuniversität IDC Herzliya.


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